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Forderungen von Ströbele: Wer am Inzest-Tabu rüttelt

Ein richtiges Wahlkampfthema scheint noch nicht gefunden. Doch Harald Martenstein hat einen Vorschlag: Wie wäre es damit, die Forderung von Grünen-Kandidat Hans-Christian Ströbele, den Inzestparagrafen abzuschwächen, aufzugreifen?

Händeringend werden in diesem Nullwahlkampf schmissige Themen für Debatten gesucht. Ich hätte eines: Inzest. Hans-Christian Ströbele von den Grünen fordert, den Inzestparagrafen abzuschwächen, Sex unter Geschwistern solle legalisiert werden. Die grüne Jugend aber geht weiter und will auch Sex zwischen Eltern und – erwachsenen – Kindern erlauben. Das Inzestverbot behindere die sexuelle Selbstbestimmung.

Das stimmt. Allerdings muss das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung immer gegen andere Rechte abgewogen werden, zum Beispiel Kinderrechte. Manche Gesellschaften erlaubten oder erlauben den Inzest, andere nicht. Die Rechtslage ist international uneinheitlich, in so unterschiedlichen Ländern wie den Niederlanden, Japan oder der Türkei ist Inzest bei Erwachsenen erlaubt.

In Deutschland gilt das Verbot bizarrerweise nur für Vaginalverkehr, homosexuelle Beziehungen fallen nicht darunter. Im Falle einer Schwangerschaft bestehen für das Kind Risiken, gewiss, aber das gilt auch für Schwangerschaften jenseits der vierzig. Ströbeles Vorschlag, Geschwisterliebe zu entkriminalisieren, finde ich bedenkenswert. Solche Beziehungen kommen ohnehin fast nur bei Geschwistern vor, die getrennt aufgewachsen sind.

Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein.
Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein.

© Thilo Rückeis

Die Grünen haben bereits die Debatte über die Verharmlosung von Kindesmissbrauch am Bein

Von der grünen Jugend scheint mir allerdings das Wort „Selbstbestimmung“ recht einseitig ausgelegt zu werden. Eine 18-Jährige, die mit ihrem Vater schläft, dürfte dabei in den seltensten Fällen „selbstbestimmt“ sein. Im Gegenteil: Einen klareren Fall von emotionaler und finanzieller Abhängigkeit, Erpressbarkeit und fehlenden Fluchtmöglichkeiten kann man sich kaum vorstellen. Die Grünen haben bekanntlich eine Debatte über ihre einstige Verharmlosung von Kindesmissbrauch am Bein, dabei mauern sie und wiegeln ab. Bei der vergleichsweise läppischen Affäre Brüderle dagegen war den meisten ihrer Vertreter kein Sexismus-Vorwurf hart genug, das ging bis zur Rücktrittsforderung. Und nun liegt die Forderung einer Parteiorganisation auf dem Tisch, Eltern ab dem 18. oder dem 16. Geburtstag – das ist nicht ganz klar – den sexuellen Zugriff auf ihre Kinder zu erlauben. Noch bigotter geht es beim besten Willen nicht.

Wie kam es zum Inzest-Tabu?

Woher kommt überhaupt das Inzesttabu? Da gibt es mehrere Theorien. Viele unserer nahen tierischen Verwandten kennen dieses Tabu. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss hielt es für einen der Bausteine der Familie. Das geschlechtsreife Kind wird gezwungen, sich nach außen zu orientieren, sich zu lösen. Vögel werfen ihren Nachwuchs aus dem Nest, wenn er flügge ist – das Inzesttabu wirkt ähnlich. Aber wenn es ohnehin keine Familie mehr gibt, nur noch das selbstbestimmte, sich gelegentlich paarende Individuum und den Staat, hat das Tabu seine soziale Funktion verloren. Das stimmt schon.

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