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EU-Notfallfonds: Getriebene des Markts

Seltsames Europa. Wieder geht es ums große Ganze, ums System. Aus systemischen Banken sind systemische Staaten geworden. Alternativlos sei ihr Handeln, sagen sie. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wer in Europa mächtiger ist, der Staat oder der Markt, dann wurde er in der Nacht zum Montag in Brüssel unmissverständlich erbracht. Die Staats- und Regierungschefs sahen sich genötigt, vor Öffnung der Börsen in Fernost einen Notfonds von 750 Milliarden Euro (!) zurechtzuzimmern. Koste es, was es wolle – das war, wieder mal, die hilflose Losung der Politik. Ein Europäischer Währungsfonds nahm binnen Stunden Gestalt an; Wolfgang Schäuble, der mit der Idee eben noch abserviert worden war, lag derweil in Brüssel im Krankenhaus.

Seltsames Europa. Wieder geht es ums große Ganze, ums System. Aus systemischen Banken sind systemische Staaten geworden. Alternativlos sei ihr Handeln, sagten die Regierenden in der Bankenkrise, und sie sagen es heute in der Schuldenkrise. Unrecht haben sie nicht: Nach der faktischen Pleite Griechenlands müssen sie die Staatsfinanzen Europas ins Lot bringen. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit und nur eine vordergründige.

Denn der gigantische Notfonds ist nur deswegen jetzt alternativlos, weil zuvor Möglichkeiten des Handelns versäumt wurden. Die Finanzmärkte müssen effektiver reguliert werden, hieß es auf drei G-20-Gipfeln und zahllosen anderen Treffen in allen denkbaren Konstellationen. Daraus geworden ist – nichts. Europa muss die eigene Integration vorantreiben, heißt es ein ums andere Mal in Brüssel und Straßburg, Berlin und Paris. Doch es geht nur unendlich schleppend voran.

Hinzu kommt ein fundamentales Missverständnis. Wenn die Bundeskanzlerin empört bei den Banken Dankbarkeit reklamiert, der Bundespräsident vor Monstern warnt und für alles sinistre anonyme Mächte – die Spekulanten nämlich – verantwortlich gemacht werden, trifft die Rhetorik ins Leere. Denn Moral ist für die wenigsten Akteure an den Finanzmärkten eine unmittelbare Kategorie; Rendite ist Ziel und Existenzbedingung. Eigentum verpflichtet, heißt es zwar im Grundgesetz, aber was soll derjenige damit anfangen, der einen Algorithmus für Transaktionen seines Rechners programmiert? Dass jetzt strunzsolide Pensionsfonds europäische Staatsanleihen meiden, belegt nicht, dass das große Zocken um sich greift, sondern wie ernst die Lage ist.

Weite Teile der Politik verstehen den Markt offenbar nicht, oder, schlimmer noch, sie wollen ihn nicht verstehen. Es macht weniger Arbeit, über die Spekulanten zu lamentieren. Aber das Unverständnis ist asymmetrisch: Der Markt begreift die Politik genau und hat die wochenlange Griechenlanddebatte als das entlarvt, was sie war: ein Rumeiern, das Zweifel am Zusammenhalt von Euro-Zone und EU provozieren musste. Es ist zu simpel, wenn sich Europas Regierende als Opfer eines Angriffs aufspielen.

Das beispiellose 750-Milliarden-Paket hat die Lage beruhigt: mindestens für den Moment, hoffentlich etwas länger. Aber da es unter Zwang zustande gekommen ist, beweist es Schwäche, nicht Stärke. Im besten Fall bleibt genug Zeit, das Kräfteverhältnis neu zu gestalten und zum Primat der Politik zurückzufinden. Alle Finanzmarktteilnehmer und alle Finanzprodukte unterliegen staatlicher Aufsicht. Diese Maßgabe muss endlich umgesetzt werden und zur Not eben im europäischen Alleingang. Kein Hedgefonds wird einen Bogen um den größten Wirtschaftsraum der Welt machen, nur weil die Regeln dort etwas strenger sind. Der Staat setzt die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens – so ist das System. Da ist selbst eine Transaktionssteuer denkbar.

Auch sollte die EU ihre Verschuldung gemeinsam organisieren. Ein erster Schritt ist mit dem Notfonds gemacht. Ein interessanter Vorschlag des Bruegel-Instituts in Brüssel besteht darin, Staatsanleihen von EU-Ländern zu poolen und in zwei Verschuldungs- und damit Risikoklassen einzuteilen. So würde die Kraft der Gemeinschaft genutzt und zugleich ein Anreiz gegeben, die Verschuldung nicht zu übertreiben. Die Nacht von Brüssel lehrt, dass die EU dauerhaft so stark sein muss, dass es sich nicht lohnt, auf ihren Untergang zu wetten. Kleinstaaterei kostet Wohlstand.

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