zum Hauptinhalt
Laut Lexikon ist ein „cybernetic organism“ ein „Lebewesen, das technisch ergänzt oder erweitert ist“. Also zum Beispiel jeder, der ein T-Shirt trägt.

© picture alliance / dpa

Grenzen der Kybernetik: Und was für ein Cyborg wären Sie gerne?

Hörgerät, Hüftgelenk, Smartphone: Im Grunde sind wir längst alle Cyborgs. Doch die technische Evolution muss gestaltet werden. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Sidney Gennies

Neulich bin ich einer Löwin begegnet. Sie lag am Rande einer Schotterpiste in der Serengeti, anderthalb Meter – einen unambitionierten Katzensprung – von mir entfernt und fürchtete sich überhaupt nicht. Ich saß in einem Toyota Land Cruiser – das sind jene Autos, mit denen einst der IS die von den USA hochgerüstete irakische Armee aus Mossul vertrieb – und hatte auch keine Angst. Ich musste aber unwillkürlich an einen Mann denken, der sich mir einmal mit den Worten vorgestellt hatte: „Hallo, ich bin ein Cyborg.“ Und wie da mein Leben so an den technischen Errungenschaften einer japanischen Automobilfirma hing, wurde mir klar: Ich auch. Wir alle.

Enno Park sowieso. Der ist Exilostfriese und gewissermaßen Berlins Vorzeige-Cyborg, ein Cochlea-Implantat gab ihm sein Gehör zurück. Er hat vor ein paar Jahren einen Verein gegründet, die „Gesellschaft zur Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik“. Seit sogar Media Markt einen Chief Cyber Officer hat, der sich öffentlichkeitswirksam einen Chip implantieren ließ, mit dem man zum Beispiel Türen öffnen kann, ist klar, dass Park damit eine Entwicklung vorausahnte, die langsam im Mainstream ankommt.

Wie der US-Amerikaner Tim Cannon haben sich bereits 50000 Menschen weltweit ein Implantat einsetzen lassen. Cannon hat nun einen Magneten im Finger.
Wie der US-Amerikaner Tim Cannon haben sich bereits 50000 Menschen weltweit ein Implantat einsetzen lassen. Cannon hat nun einen Magneten im Finger.

© picture alliance / dpa

Mittlerweile tragen weltweit bis zu 50 000 Menschen ein Implantat – und nicht um körperliche Gebrechen zu kompensieren, sondern weil es technisch möglich ist und den Alltag erleichtert. Das ist ein eher junges Phänomen. Bisher waren ja vor allem ältere Menschen als Cyborgs unterwegs, sie hatten nur nicht so eine coole Bezeichnung, sondern eben einfach einen Herzschrittmacher oder eine künstliche Hüfte im Körper.

Tatsächlich lässt sich der Cyborg-Begriff noch weiter fassen, denn laut Lexikon ist ein „cybernetic organism“ ein „Lebewesen, das technisch ergänzt oder erweitert ist“. Also zum Beispiel jeder, der ein T-Shirt trägt. Noch augenfälliger wird es beim Smartphone. Das ist bei den meisten Menschen zwar noch nicht implantiert. Doch bei einer ganzen Generation, die ihre Telefone mit ins Bett und aufs Klo nimmt, sich ohne Google-Maps in der eigenen Stadt nicht mehr zurechtfindet, kann man fragen: Warum nicht?

Das klingt übertrieben, ist aber der Kern dessen, was uns menschlich macht. Der Mensch ist das einzige Tier, das aus der Evolution ausgetreten ist. Er überlebt nicht, weil er sich so gut anpasst, sondern indem er die Umgebung gemäß seinen Bedürfnissen ändert. Den größten Überlebensvorteil hat, wer Zugang zur besten Technik, dem meisten Wissen, den nützlichsten Rohstoffen hat. Das war beim Jäger oder Sammler nicht anders als heute. Viel hat sich verändert über die Jahrtausende. Doch die menschliche Evolution ist nicht biologisch, sie ist technisch.

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine liegt demnach in unserer – Natur. Widerstand dagegen ist zwecklos. Diese andere, technische Evolution anzunehmen und zu gestalten, ist aber gleichsam eine Verpflichtung, die nicht Marketingexperten von Elektro- nikläden überlassen werden sollte und nicht nur von Vordenkern à la Enno Park geleistet werden kann. Die Debatte darüber, was für Cyborgs wir künftig sein möchten, gehört mitten in die Gesellschaft.

Warum die Säbelzahntiger letztlich ausgestorben sind, die Löwin aber noch immer faul in der Serengeti liegen kann, ist nicht abschließend erforscht.
Warum die Säbelzahntiger letztlich ausgestorben sind, die Löwin aber noch immer faul in der Serengeti liegen kann, ist nicht abschließend erforscht.

© privat

Denn was die Evolution hervorbringt, muss nicht immer gut sein. Der Säbelzahntiger zum Beispiel hatte lange gebogene Eckzähne. Die waren vor 15 Millionen Jahren außerordentlich praktisch, weil man damit seiner Beute gleichzeitig Halsschlagader und Luftröhre durchtrennen konnte. Je länger, desto praktischer. Damit waren sie ein respektables Statussymbol, denn wer lange Zähne hat, kann auch eine Säbelzahntigerfamilie ernähren oder so ähnlich. Über die Jahrmillionen setzten sich also Exemplare mit besonders mächtigen Eckzähnen durch, bis einige Arten bis zu 28 Zentimeter lange Fänge hatten. Warum die Riesenkatzen letztlich ausgestorben sind, die Löwin aber noch immer faul in der Serengeti liegen kann, ist nicht abschließend erforscht. Nicht geholfen haben dürfte aber, dass es gegen Ende der letzten Eiszeit nicht mehr darauf ankam, möglichst effizient zu töten, sondern die rar gewordenen Beutetiere restlos zu verwerten. Da waren die Riesenzähne beim Abknabbern der Knochen eher im Weg, vom Vor- zum Nachteil geworden. Jedenfalls gibt es keine Säbelzahntiger mehr.

Das ist den Katzen nicht vorzuwerfen. Sie konnten ihre Evolution nicht beeinflussen. Der Mensch – Cyborg, der er ist – schon. Er sollte sogar. Und sorgt es außer mir eigentlich noch jemanden, dass Smartphones immer größer werden?

Alle Kolumnen von Sidney Gennies finden Sie hier: "Alter Spalter"

Diskutieren Sie mit dem Autor auch auf Facebook oder Twitter.

Zur Startseite