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Meinung: Ist Tempo 30 überall in Berlin sinnvoll?

Betrifft: Einführung von Tempo 30 in Berlin Ein Blick in die - leider für diese Zwecke unvollkommene- Statistik zeigt, dass das Argument der Unfälle nicht für Tempo 30 herhalten kann. Die wenigsten dieser Ereignisse geschehen bei höherem Tempo, sondern es sind Fehlverhalten beim Abbiegen, falsche Fahrtrichtungen etc.

Betrifft: Einführung von Tempo 30 in Berlin

Ein Blick in die - leider für diese Zwecke unvollkommene- Statistik zeigt, dass das Argument der Unfälle nicht für Tempo 30 herhalten kann. Die wenigsten dieser Ereignisse geschehen bei höherem Tempo, sondern es sind Fehlverhalten beim Abbiegen, falsche Fahrtrichtungen etc. . In allen Betrachtungen fehlt außerdem die Unfallursache „sinnloser Schilderwald“. Die Beispiele dafür sind in Berlin überall zu finden. Der ÖPNV - außer U- und S-Bahnen - hätte übrigens bei Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen das Nachsehen. Ein Umweltargument gibt es definitiv nicht, denn fast alle PKW haben einen höheren Verbrauch bei Tempo 30, da sie in einem ungünstigen Betriebszustand fahren. Im übrigen: Wäre der Fahrradbetrieb so reglementiert wie der eines PKW (Einhalten der Zulassungsvorschriften durch TÜV und Einhalten der Verkehrsregeln durch die Polizei überwacht, Helmpflicht, Kennzeichen und Zwangsversicherung, Betriebssteuern usw.), dann gäbe es auch weit weniger Unfälle mit Fahrrädern. Gerhard Feder

Sehr geehrter Gerhard Feder,

Verkehrspolitik muss die Interessen aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer unter vier zentralen Aspekten berücksichtigen: Sicherheit, Umweltverträglichkeit, Mobilität und Lebensqualität. Aus diesem Grund sind in Berlin inzwischen rund 75 Prozent aller Straßen Tempo-30 geregelt. Einige sind dies nur in der Nacht; hier geht es um Lärmschutz für die Anwohner. Andere sind das während der Schulstunden; da geht es um die Sicherheit unserer Kinder. Gerade in Wohngebieten haben wir Tempo-30-Zohnen eingerichtet, denn die Wohnqualität und das Kiezleben werden dadurch um ein beträchtliches Stück erhöht. Nicht sichtbar, aber sehr wohl messbar ist auch der Rückgang an Feinstaub und anderen Luftverschmutzungen überall dort, wo nur noch 30 km/h gefahren werden darf. Der in Berlin zunehmende Radverkehr und die steigende Nutzung des ÖPNV zeigen, dass die Menschen das sehr wohl wollen und zur besseren Lebensqualität in der Stadt selber beitragen, ohne Verlust an Mobilität. Unter den vier genannten zentralen Aufgabenstellungen ist Tempo 30 also sinnvoll und wird angenommen.

Eine andere Sichtweise stellt eine Verzerrung der Realität da. Alle seriösen wissenschaftlichen Studien bestätigen: Tempo 30 hat nur Vorteile in der Stadt, keine Nachteile. Aber wie auch in der Klimadebatte werden immer wieder alte Vorurteile und Falschinformationen kolportiert und damit das gesicherte Wissen und der verbriefte Kenntnisstand aller ernstzunehmenden Verkehrswissenschaftler in Frage gestellt. Fakt ist: Bei Tempo 30 ereignen sich weniger Unfälle und sie gehen glimpflicher aus. Die Zahlen sprechen für sich: Bremsweg 50 km/h = 27,7 Meter; Bremsweg 30 km/h = 13,3 Meter. Bei Tempo 30 sind die Folgen für die Unfallbeteiligten geringer. Die Zahlen dazu? Bei Tempo 50 sterben acht von zehn Fußgängern, bei Tempo 30 sind es drei von zehn. Wir könnten also fünf von zehn verunfallten Menschen mehr das Leben erhalten als bei 50 km/h. Oder noch deutlicher: Ein zehnjähriges Kind wird von einem Mittelkassewagen angefahren. Bei 50 Kilometern hat der Wagen fast dreimal soviel Gewicht wie bei 30 km/h. Die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert, ist bei 30 km/h bis zu 70 Prozent geringer. Mit welchem Argument meint der Leserbriefschreiber, könnte er da Eltern, die Sorge um ihre Kinder haben, für 50 km/h gewinnen? Wie kann er Menschen, die Angehörige im Straßenverkehr verloren haben, da sagen: Das Recht, 50 km/h in der Stadt zu fahren, darf nicht angetastet werden. Auch die positiven Effekte für die Umwelt sind alle inzwischen zweifelsfrei belegt. 30 km/h verursachen weniger Schadstoffe, weniger Lärm und senken weder die Durchschnittsgeschwindigkeit des ÖPNV noch die der Autofahrer spürbar. Diese liegt im Durchschnitt der Großstädte gegenwärtig bei 24 km/h. Selbst wenn es zu geringen Verzögerungen käme, machen die auf der durchschnittlichen Strecke, die Autofahrer in der Stadt fahren, von unter fünf Kilometer, so wenig aus, dass sie kaum in Minuten zu messen sind. Im Übrigen kann ein moderner PKW ohne Schwierigkeiten 30 Stundenkilometer fahren, ohne Mehrverbrauch und ohne mehr Lärm. Und wenn es nicht so wäre, müsste das eine zentrale Forderung an die Autoindustrie sein. Das Argument, Autos seien auf 50 km/h ausgelegt, stammt aus den 80er Jahren und wird nicht einmal vom ADAC noch angeführt. Einzig das Argument „Schilderwald“ kann ich nachvollziehen. Die Regelung des Straßenverkehrs ist kompliziert und erfordert viele Hinweise. Manche könnte man sicher besser organisieren, aber damit setzen wir uns auseinander. Die offensichtlichste Lösung hier ist jedoch: langsamer fahren, denn dadurch steigt die Wahrnehmung. Gerade in Zeiten einer älter werdenden Gesellschaft steigt damit die Chance, sicher durch den Straßenverkehr zu kommen. Ich sagte es eingangs: Verkehrspolitik muss die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger berücksichtigen. Das Hauptinteresse, das wir dabei zu schützen haben, ist die körperliche Unversehrtheit und das Wohlergehen der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. Tempo 30 ist ein wichtiges Instrument hierbei, darum ist Tempo 30 in Berlin verkehrspolitisch, umweltpolitisch und Stadtentwicklungspolitisch so, wie wir es machen, sinnvoll.

— Ingeborg Junge-Reyer (SPD) ist Senatorin für Stadtentwicklung.

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