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Meinung: Kanzler des Euro

Helmut Kohl lamentiert über Angela Merkel – und hofft auf unsere Vergesslichkeit

Von Robert Birnbaum

Im Nachhinein, lautet eine alte Weisheit der Zeitgeschichte, sieht noch jede tagespolitische Volte wie ein Plan aus. Warum nur fällt einem dieser Satz ein, wenn man Helmut Kohls jüngste Philippika gegen die Außen- und Europapolitik seiner Nachfolgerin liest? Keine Prinzipien, kein Kompass, keine Verlässlichkeit – andere als Kohl haben das Angela Merkel auch schon vorgeworfen. Und es gibt ja gute Gründe für kritische Anmerkungen; die Libyen-Enthaltung kommt gerade wieder in frische Erinnerung. Trotzdem berühren die Vorwürfe aus der Feder des Alten irgendwie merkwürdig. Sie sind zu maßlos, um wahr zu sein.

Sie sind auch zu rechthaberisch. „Wir müssen dringend zu alter Verlässlichkeit zurückkehren“ ist ein Satz, den nur einer aufschreiben kann, der auf Vergesslichkeit setzt. Stand nicht in Washington „Genscherism“ jahrelang für unsicheren Kantonismus? Hat nicht unter Kohl ein Außenminister die eigene Regierung vors Verfassungsgericht gezerrt, um die Bundeswehr vom Balkan fernzuhalten? Verlässlich war Kohl im großen Ganzen – in der Treue zur Nato, zu Europa. Aber will jemand Merkel ernsthaft vorwerfen, sie sei das nicht?

Oder nehmen wir den Kompass. Kohls Wegweiser war ein simples Pfadfinder-Gerät, dessen Pfeil in Richtung „mehr Europa“ zeigte. Im gewiss verminten, aber doch relativ übersichtlichen Gelände, das der Zweite Weltkrieg geprägt hatte, war das ein hinreichend genaues Instrument. Aber schon bei der Einführung des Euro hatten Weitblickende den Verdacht, dass die Politikmethode überstrapaziert war, in Europa einen großen Sprung nach vorn zu machen und darauf zu setzen, dass schon irgendwie nachfolgt, was eigentlich Voraussetzung gewesen wäre: Gemeinsamkeit auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.

An dieser Stelle wird Kohl in seinem Interview übrigens dünnhäutig. „Konstruktionsfehler“? Aber nicht doch! Es ging damals nicht anders, Sie verstehen, die Widerstände waren zu groß. Das stimmt ja sogar. Nur mutet die Nachsicht für eigene Halbheiten ziemlich selbstgerecht an bei einem, der ansonsten keine Nachsicht kennt.

In dem Gelände, in dem sich Merkel heute bewegen muss, ist mit dem Pfadfinderkompass längst kein Durchkommen mehr. Kohl musste gegen das Misstrauen Maggie Thatchers um ein vereintes Deutschland kämpfen. Merkel hat es mit dem Monster Weltfinanzsystem zu tun, von dem kein Mensch weiß, wie man es zähmt. Aber alle ahnen: Ein Fehler – und der Euro ist Vergangenheit. Keine Kompassnadel, der Pfeil der Börsenkurse zwingt oft genug die Richtung auf.

Das ist keine Entschuldigung dafür, dass Merkel sehr lange gezögert hat, sich offensiv zu Europa zu bekennen. Sie hat mit zu verantworten, dass die eigene Partei zum Teil sehr pfennigfuchserisch über die Euro-Hilfen diskutiert. Aber dass die Kanzlerin in der Sache nicht alles daran setzte, die Gemeinschaft und ihre Währung zu bewahren – das ist ihr nicht abzusprechen. Kohl tut das wohlweislich auch gar nicht. Er tut nur so. Man muss zu seinen Ungunsten annehmen, dass er weiß, was er tut.

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