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Meinung: Geburt einer Nation

Die europäische Revolution in der Ukraine könnte das Land endlich zu einer sozialen und kulturellen Einheit zusammenfügen

Heute gilt Bohdan Chmielnickij als der ukrainische Nationalheld. Er war der Feldherr, der „Hetman“ jenes Kosakenvolkes, das im 16.-17. Jahrhundert im „Ukraina“ genannten Osten des polnischen Königreiches lebte. Die Kosaken waren vor allem tapfere Krieger, an deren Integration die polnische Krone gescheitert war, weshalb Chmielnickij im Jahre 1654 entschied, sein Volk unter Moskauer Herrschaft zu stellen. Die „Vereinigungszeremonie“ des „Hetmanenstaats“ mit Russland wurde in der Stadt Perejeslaw östlich des Dnjeprs gefeiert, doch die Perejeslawer Union wäre fast schon gleich mit einem Eklat gescheitert: Denn Chmielnickij forderte den Gesandten des russischen Zaren auf, zu schwören, die von der polnischen Krone bereits zugesagten Freiheiten der Kosaken zu respektieren, woraufhin er eine schroff abweisende Antwort zu hören bekam: „Die Untertanen sollen ihrem Herrscher die Treue schwören, nicht umgekehrt.“ Die Zeiten der polnisch-litauischen Republik, in der sich jeder neu gewählte König dazu verpflichtete, die bestehenden Gesetze und Privilegien zu achten, gingen damals für das Gebiet der heutige Ostukraine zu Ende.

Der Einfluss der zuvor in Europa verwurzelten Ukraine auf Russland wurde dafür umso größer. Die Ankömmlinge aus dem neuen russischen Westen machten nicht selten eindrucksvolle Karrieren in Moskau und später am Petersburger Hof. Bald beherrschten sie die Hierarchie der russisch-orthodoxen Kirche und trugen wesentlich zur Entwicklung der russischen Sprache, Wissenschaft und Literatur bei.

Die Perejeslawer Union beendete allerdings den direkten Einfluss der europäisch-lateinischen Kultur (mit Privateigentum, Freiheitsrechten, dem Magdeburger Stadtrecht, einem funktionierenden Rechtssystem, den demokratischen Herrschaftsprozeduren und dem Parlamentarismus) auf den Osten des Kontinents. Der lange Niedergang der multiethnischen, multireligiösen und der Freiheit des Einzelnen verpflichteten polnisch-litauischen Union verlief parallel zum Aufstieg der Moskauer Despotie zu einer europäischen Großmacht. Zusammen mit Preußen und den Habsburgern beteiligte sich diese an der räuberischen Vernichtung des polnisch-litauischen Commonwealth im 17. Jahrhundert, ohne dass alle heute als ukrainisch betrachteten Territorien je dem russischen Reich einverleibt werden konnten. Die westlichen Gebiete der heutigen Ukraine gerieten zuweilen dauerhaft unter die österreichische, die ungarische, die tschechoslowakische und – in der Zwischenkriegszeit wieder – unter die polnische Herrschaft. Gewiss hängt diese wechselvolle Herrschaft mit der Tatsache zusammen, dass sich die ukrainische Nation erst im späten 19. Jahrhundert herauszubilden begann.

Die Sowjetunion ermordete Millionen ukrainischer Bauern, entmündigte auf Jahrzehnte die Bevölkerung und ließ sie im Krieg gegen die im Land wütenden Deutschen bluten. Paradoxerweise war es jedoch eben dieser sozialistische Gespensterstaat, dem die Ukraine ihre großzügigen Grenzen von heute verdankt: Sein Zerfall machte die junge Republik zum territorial größten Staat Europas. Diese Republik ohne „fertige Nation“ und beinahe ohne jegliche gesellschaftliche Organisationsfähigkeit, dafür aber reichlich gesegnet mit vom Kommunismus verdorbenen Eliten, hat es bis heute nicht geschafft, einen funktionierenden und halbwegs transparenten Staat aufzubauen. (Darin unterscheidet sie sich allerdings nur geringfügig von ihren „slawischen Brüdern“ Russland und Belarus.)

Wie ist es also zu begreifen, dass in den letzten Tagen plötzlich mündige Ukrainer auf den Straßen Kiews und anderer Städte des Landes für Freiheit demonstrieren gehen, beharrlich, besonnen und mit ergreifender Fröhlichkeit? Denn um Freiheit geht es, wenn die Menschen auf den Straßen in Richtung ihrer Machthaber rufen: „Wir sind so viele, dass ihr uns nicht besiegen werdet.“ Es wird auch die Freiheit gemeint sein, wenn Hunderttausende „Juschtschenko, Juschtschenko“ skandieren. Und wenn die Menschen „Ukraine, Ukraine“ rufen und darunter zum ersten Mal ihr Land in seinen heutigen Grenzen verstehen, so wird mit diesem Ruf das lange Ende jener Entwicklung eingeläutet, die mit der Perejeslawer Union ihren Anfang nahm. Die Freiheit wird dem plötzlich entdeckten Vaterland gleich gesetzt, einem Land, in dem die Regierenden den Bürgern die Treue zu schwören haben. Die Ukraine übernimmt somit jene Rolle eines Boten der Freiheit nach Osteuropa, die die polnisch-litauische Föderation vom 14. bis zum 18. Jahrhundert gespielt hatte. Aber selbst nach dem zu erwartenden Wahlsieg Victor Juschtschenkos bei der Wiederholung der Stichwahl am 26. Dezember wird der Weg zu einer ukrainischen Demokratie, Zivilgesellschaft und Unabhängigkeit lang sein.

Die freiheitliche Nationalbewegung in der Ukraine hat sich inso- weit lediglich die Chance erarbeitet, den ersten Schritt auf dem Weg hin zur Demokratie zu gehen: durch freie und faire Wahl eines Staatspräsidenten. Wohl bemerkt: Trotz aller anders lautender Verkündigungen im „aufgeklärten Westeuropa“, das aus gedanklicher Faulheit und politischem Opportunismus heraus häufig Behauptungen der Machthaber für bare Münze nimmt, würden es die ersten freien, demokratischen und fairen Wahlen im geographischen Osteuropa sein. Wenn es den Ukrainern dazu noch gelänge, einen demokratischen Machtwechsel zu vollziehen, wäre die Basis für eine weitere Demokratisierung des politischen Systems perfekt. Das ändert jedoch nichts daran, dass die dem Verfassungsstaat nicht gerade förderlichen politischen Kompromisse auch mit den gegenwärtigen, de facto kriminellen Machthabern unausweichlich sind.

Auch mit einem baldigen Entstehen der Zivilgesellschaft in der Ukraine ist nicht zu rechnen. Dazu bedarf es eines funktionierenden Verfassungs- und Rechtsstaates, einer Autonomie von Wirtschaft und Politik, einer partizipationsfreudigen Bevölkerung und einer praktizierten Meinungsvielfalt. Nur letzteres ließe sich schnell, mit dem Zugang der Opposition zu den staatlichen Massenmedien herbeiführen. Was hingegen die sonstigen Voraussetzungen angeht, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sie erfüllt werden – weil eine wahrlich bürgerliche Gesellschaft nicht in Schnelle auf der Straße entsteht. Vielmehr stellt sie das Ergebnis eines langwierigen Prozesses dar, der durchaus einen mit harten Bandagen zu führenden „Kampf aller gegen alle“ um die Durchsetzung eigener Interessen einschließt. Da die postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas nach wie vor lediglich rudimentär organisiert und ökonomisch nicht selbstständig sind, müssen sich ihre Aktivitäten größtenteils darauf beschränken, Forderungen an den – von mafiösen Strukturen beherrschten und jämmerlich ineffizienten – Staat zu richten. Die Ukrainer haben sich nun gegen ihn aufgelehnt, was in etwa mit jenem Beginn des langen Marsches hin zur Zivilgesellschaft vergleichbar ist, der vor 15 Jahren in Mitteleuropa begonnen hat und immer noch nicht abgeschlossen ist.

Darüber hinaus wird es in Kürze keine echte Unabhängigkeit von Russland geben können, sind doch dafür die Verbindungen zwischen den politisch-ökonomisch-administrativen Oligarchien beider Länder viel zu eng. Keinem jungen Staat wird übrigens die echte Handlungsfreiheit einfach geschenkt, auch sie muss hart erarbeitet werden. Es ist allerdings zu erwarten, dass der in den letzten Jahren Leonid Kutschmas angestiegene Einfluss Russlands auf die innere Entwicklung der Ukraine zurückgehen wird – angenommen, die Ukrainer werden in Zukunft ihrer politischen Führung auf die Finger schauen.

Wenn sich also die Ukraine erst in einigen Jahrzehnten den Idealen der Demonstranten von heute annähern kann, können die aktuellen Ereignisse dann überhaupt als eine „Revolution“ apostrophiert werden? Aber ja, selbstverständlich!

Es ist eine nationale Revolution in dem Sinne, dass – unabhängig davon, welchen Ausgang die gegenwärtige Krise auch nehmen mag – das Land niemals wieder jenes sein wird, welches es bisher war. Insofern spalten die aktuellen Ereignisse entgegen allen Befürchtungen die Ukraine nicht, sondern sie schmieden diese vielmehr zusammen, selbst wenn die Wahrnehmungen der Freiheitsbewegung im Osten und im Westen der Republik tatsächlich immer noch konträr sind. Hier und da werden jedoch Vorgänge bewertet, die alle im Land gleichermaßen betreffen. Die seit der Unabhängigkeit 1991 in den Sonntagsreden der ukrainischen Politiker viel beschworene ukrainische Nation wird somit erst jetzt tatsächlich geboren. Sie stellt nun eine sozial, ethnisch und kulturell äußerst heterogene Einheit dar, die sich am Gemeinwohl zu orientieren beginnt. Solange es der herrschenden Oligarchie nicht gelingt, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Juschtschenkos und Janukowitsch’ zu provozieren, wird die ukrainische Nation aus dieser Krise geeinter denn je zuvor hervorgehen.

Die orangene Revolution der Ukraine ist auch eine russische und belarussische: Die Russen werden nun gezwungen, sich von der konstitutiven Vorstellung ihrer Identität zu verabschieden, die Ukrainer und Belarussen stellten einen Zweig der russischen Nation dar. Solange diese Vorstellung scheinbar unerschütterlich ist, so lange kann der Kreml weiterhin eine imperiale Politik betreiben. Nun werden sich die Russen als eine Nation unter anderen definieren müssen, was ihren Blick stärker als zuvor auf die eigenen Probleme richten wird. Dass man auf den Kiewer Straßen ab und zu eine russische und mehrere belarussische Flaggen sieht, ist ein Beweis dafür, dass es im gesamten Osteuropa demokratische, freiheitliche Kräfte gibt. Für die demokratischen Gegner des Putin’schen Autoritarismus und des neuen Totalitarismus à la Lukaschenko in Weißrussland (bis heute war kein Kommentar von ihm zu den Ereignissen im Nachbarland zu vernehmen) stellt die ukrainische Revolution die wertvollste Unterstützung dar, die sie aus dem Ausland je erhalten haben.

Last but not least haben wir es in der Ukraine mit einer europäischen Revolution zu tun. Die Ideen der lateinisch-europäischen Kultur werden heute von der Europäischen Union nach Osteuropa getragen. Und es hat eine durchaus symbolische Bedeutung, dass es ausgerechnet dem polnischen Staatspräsidenten in Zusammenarbeit mit dem litauischen Staatschef und dem ukrainischen Oppositionsführer in Gesprächen am Runden Tisch am 26. November gelungen ist, den an diesem Tag nicht gerade wach wirkenden Vertreter der Europäischen Union für das Projekt von Freiheit und Demokratie zu gewinnen. Die EU wird standhaft bleiben müssen, auch wenn so mancher europäische Regierungschef über die Zukunft der Ukraine am liebsten mit dem russischen Präsidenten spricht.

In der Union wird angeblich sogar über Sanktionen gegen die ukrainischen Machthaber nachgedacht und dabei spielt die Vorstellung eine Rolle, die wichtigsten Vertreter des ukrainischen Regimes hätten für den Fall eines gewaltsamen Umsturzes in Kiew schon Flugzeugtickets nach Moskau gebucht. Doch keiner von denen will nach Moskau fliehen! Wien, London, Paris sind die Ziele – also der Westen Europas, wo diese Gestalten ihre zusammengerafften Reichtümer angelegt hatten. Es wäre zu wünschen, dass die EU sie nicht aufnimmt, falls sie sich trotz der Entscheidung des Obersten Gerichts vom Freitag dem Demokratisierungsprozess in den Weg stellen.

Im Konflikt zwischen den kriminellen Oligarchen und der freiheitlichen Bewegung wird Europa sich selbst treu bleiben, auch wenn dies so manches Geschäft in Frage stellt. Der Ukraine sei Dank.

Jerzy Mackow

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