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Meinung: Kunst darf alles

Die „Idomeneo“-Absage lehrt: Die Freiheit der Kunst ist nicht selbstverständlich. Sie wird zunehmend bedroht

Die erste Aufregung um die Aufführungsabsage der Deutschen Oper Berlin hat sich gelegt; nun streiten sich die Beteiligten um ihren Anteil an der Verantwortung. So weit, so schlecht. Was aber darüber hinaus sichtbar geworden ist, hat eine ganz andere Dimension: nämlich die Freiheit der Kunst. Die Freiheit, Kunst zu schaffen und öffentlich zu machen – wie umgekehrt, sich öffentlich dazu zu äußern, und das ohne Furcht und Gefahr.

Es ist dies eine Selbstverständlichkeit. Doch mit einem Mal dämmert es einer breiten Öffentlichkeit, dass das Selbstverständliche durchaus nicht selbstverständlich ist. Die Eilfertigkeit, mit der eben dieses Selbstverständliche nach Kirsten Harms’ hysterischer Absage betont worden ist, ganz gleich von welcher politischen Seite, macht es ganz im Gegenteil suspekt. Wie selbstverständlich ist die Freiheit?

Denn darum geht es im Kern. Die Freiheit der Kunst – die Freiheit beispielsweise, auf der Bühne auch Jesus und Mohammed als abgeschlagene Pappköpfe vorzuführen – ist lediglich die zugespitzte Form einer Freiheit, die für uns alle selbstverständlich ist, weil sie die Grundlage unserer Selbstentfaltung bildet. Nicht in die Aufführung des „Idomeneo“ gehen zu können, mag als ein lässliches Übel erscheinen. Doch eine unbequeme Inszenierung ist nur der Anfang einer Spirale, an deren Ende jedweder Kunst das Recht abgesprochen wird, sich zu äußern oder überhaupt nur geschaffen zu werden.

Die Auffassungen von Zuträglichkeiten und Grenzen der Meinungsfreiheit divergieren im globalen Maßstab erheblich. Es lohnt sich daher zu erinnern, wie es hierzulande zu der so außerordentlich geschützten Kunstfreiheit gekommen ist. Die schreckliche Erfahrung des Nazi-Regimes stand den Vätern des Grundgesetzes lebhaft vor Augen. Die Instrumentalisierung der Künste als Ideologie-Produzent war das Zerrbild, das zum Ausschluss jedweden staatlichen Einflusses führte. Nicht einmal durch die Hintertür eines allgemeinen Gesetzes sollte dies möglich sein. Ausdrücklich ist die Kunst – anders als die universitäre Lehre – sogar von der Verpflichtung auf die Wertordnung der Verfassung ausgenommen. Kunst darf (beinahe) alles. Sie darf schmähen, verletzen, Missfallen erregen und Proteststürme auslösen. Sie ist keinem Glauben verpflichtet, sie muss niemandem zu Diensten sein.

Das ist, historisch gesehen, die Folge einer langen Entwicklung und mitnichten die Regel. Stets hatte die Kunst Vorschriften zu folgen, gesetzt von Herrschern, Auftraggebern, Akademien. Sinn und Notwendigkeit der Kunstfreiheit erschließen sich erst als Folge der über einen Zeitraum von Jahrhunderten hinweg erstrittenen Autonomie der Künste. Wo es keine verbindlichen Regeln mehr gibt, muss die grenzenlose Ausdrucksvielfalt der Künste ohne Ansehung des Inhalts gesetzlich garantiert und staatlich geschützt werden. Freiheit und Regellosigkeit stehen im Wechselverhältnis zueinander.

Die Kunstfreiheit ist dabei der Grenzfall, der entgrenzte Fall der Meinungsfreiheit. Der Meinungsfreiheit stehen mancherlei Hürden entgegen. In ihrer Mehrzahl sind es solche, die sich aus dem Alltag des menschlichen Miteinanders ergeben, in der die Freiheit des Einzelnen ihre notwendige Grenze an der gleichberechtigten Freiheit Dritter finden muss. Ein Sonderfall ist das Verbot der Leugnung des Holocaust, der im Karikaturenstreit etwa vom Iran als Beleg für eine hierzulande beschränkte Meinungsfreiheit herangezogen wurde. Wie dem auch sei: Nur das Reich der Kunst stellt uns das vollkommene Reich der Freiheit vor Augen.

Das gelingt in der Praxis indessen nur dann, wenn sich die Beteiligten dieser konjunktivischen Grundbedingung bewusst sind – und sie für sich selbst akzeptieren. Was im Alltag als Beleidigung oder Obszönität geahndet werden mag, ist auf der Bühne künstlerischer Ausdruck. Die Ahndung beschränkt sich auf die ihrerseits in Grenzen gehaltenen Missfallensäußerungen des Publikums. Dass es keine Saalschlachten mehr geben darf wie in der Endzeit der Weimarer Republik, als Filmvorführungen von „Im Westen nichts Neues“ oder Opern wie „Mahagonny“ gestürmt wurden, gehört zum Konsens der Bundesrepublik. Es ist uns dies ein Konsens der Zivilgesellschaft schlechthin.

Aber eben nur uns. Andere Völker, Kulturen, Glaubensgemeinschaften vertreten andere Auffassungen. Im Fall der Deutschen Oper genügte die Möglichkeit, dass eine abweichende Auffassung sich womöglich gewaltsam äußern könnte, um auf die Freiheit der Kunst zu verzichten. Das belegt nur, wie bewusst wir uns mittlerweile der Unterschiede der Wertauffassungen geworden sind.

Kann es sein, dass wir eine Weile lang lediglich vergessen hatten, dass die elementare Unterschiedlichkeit des Verhältnisses zur Freiheit ein konstituierendes Moment unseres gesellschaftlichen Wertekanons bildete? Knapp fünf Jahrzehnte lang teilte der Eiserne Vorhang Europa in West und Ost. Das bundesdeutsche Grundgesetz entstand zuvörderst im hautnahen Schrecken vor dem eben untergegangenen Hitlerreich, doch zugleich in Anschauung des sowjetischen Zwangssystems, das sich bis an die Elbe herangeschoben hatte. Die Indienstnahme der Künste für die Propagierung des Bolschewismus führte vor Augen, welch umfassender Gesetzesgarantie die Kunstfreiheit bedurfte, um gegen solche Gefahr gefeit zu sein. Dass wiederkehrende Versuche, die Freiheit der Kunst fallweise und etwa unter dem Vorwand der „Jugendgefährdung“ einzuengen, von Günter Grass’ Roman „Die Blechtrommel“ bis zu Georg Baselitz’ Gemälde „Die große Nacht im Eimer“, erfolglos blieben, gehört zu den Ruhmesblättern der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit – flankiert in aller Regel von den Medien, die in der Kunstfreiheit die eigene Meinungsfreiheit verteidigten. Erst diese Verteidigung, ja Ausweitung der Freiheit im Westen gab diesem die moralische Überlegenheit über den Osten, dessen Zusammenbruch mit der Abschüttelung der nicht länger erduldeten Unterdrückung der Freiheit besiegelt war.

Es folgte in den Neunzigerjahren ein Intermezzo, das voreilig als „Ende der Geschichte“ bejubelt wurde – als ob die libertäre Gesellschaft des Westens den zwangsläufig eintretenden Endzustand der ganzen Welt beschriebe. Wir wissen es mittlerweile besser – weil schlechter. Wir haben auf schreckliche Weise demonstriert bekommen, dass die westliche Vorstellung von Freiheit einen historischen Sonderfall darstellt. Wir sind uns der Geschichtlichkeit und des besonderen Ursprungs der eigenen Werte bewusst geworden, die stets als universell gültig verstanden wurden, als handele es sich um Gesetze der Physik. Während im sowjetischen Osten der Wunsch nach Freiheit als gesamteuropäisches Erbe stets lebendig blieb und schließlich obsiegte, findet er jedenfalls im islamistischen Osten keinen Widerhall.

Nun ist die Freiheit des Westens zugleich seine notwendige Schwäche. Der Werterelativismus lässt sich in westlichen Gesellschaften nicht mehr zurückdrängen. Doch die von Max Weber auf den Begriff gebrachte „Entzauberung der Welt“ hat eben nicht überall stattgefunden. Die Säkularisierung ist eine Errungenschaft des Abendlandes, über Jahrhunderte hinweg ausgefochten. Im Ergebnis genießen wir die Freiheit, zu denken, zu sagen und in Kunst auszudrücken, was wir wollen, eingehegt durch juristische Formeln, doch keinesfalls eingezwängt durch Vorgaben von Religion oder Ideologie.

Mit diesen Werten steht der militante Islamismus auf Kriegsfuß. Ja, es bedarf nicht einmal miserabler gesellschaftlicher Umstände, um diesen Islamismus anzufachen. Mitten in den saturierten Gesellschaften des Westens gedeiht er gleichfalls. Die Anziehungskraft der westlichen Kultur und ihrer Grundprinzipien, darunter das der Freiheit des Individuums, hat, global gesehen, erheblich nachgelassen, wie Samuel Huntington in seinem umstrittenen Buch „Kampf der Kulturen“ eindrucksvoll aufgezeigt hat. Was den einen Freiheit, ist anderen augenscheinlich nichts als Leere, die mit rigider Ideologie gefüllt werden muss; nichts als Provokation, die es buchstäblich mit Feuer und Schwert zu tilgen gilt. Was den einen Kunst, ist anderen das Werk des Teufels. Darüber konsensual diskutieren zu wollen, ist die erwartbare Antwort aufgeklärter Gesellschaften, die verkennen, dass der wertoffene Diskurs ein antikes Erbe ist, das dauerhaft nur im Abendland seine Verankerung gefunden hat.

Nun hat die Freiheit der Kunst, verstanden als besondere Ausprägung der Meinungsfreiheit, noch einen weiteren Aspekt. Im westlich geprägten Europa ist sie, wie schon Hegel beobachtet hat, an die Stelle der Religion getreten. Die Verselbstständigung der Kunst geht mit dem Verlust des Glaubens seit der Aufklärung einher. Die Kunst füllte, was die zum abgesonderten Bereich individueller Frömmigkeit zurückgedrängte Religion an gesellschaftlichem Raum freigab. Diesen Freiraum eroberte die Kunst, indem sie sich zur vollständigen Autonomie aufschwang – bis es nichts mehr zu erobern gab. Ebendies wurde der Moderne zum Problem, dass ihre künstlerischen Provokationen zunehmend ins Leere liefen.

Der westliche Konsens pendelte sich darauf ein, künstlerische Tabubrüche lediglich ästhetisch zu bewerten. Die Künste bilden, soziologisch gesehen, selbstreferenzielle Subsysteme aus. Ihre Maßstäbe beziehen sie aus sich selbst – weswegen es heutzutage als hoffnungslos anachronistisch gelten muss, etwa eine Theateraufführung türenknallend zu verlassen. Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere: Dieses von den Abstrakten Expressionisten New Yorks nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebrachte Motto sichert den Freiraum der Kunst – und bemäntelt zugleich deren Wirkungslosigkeit.

Alles andere ist jedoch nicht alles andere – in Gesellschaften, die die Trennung von Staat und Religion auf der einen und Kunst und Religion auf der anderen Seite nicht mitvollzogen haben. Zu welch gewaltsamen Auseinandersetzungen der Streit um die Gültigkeit der Kunst führen kann, hat die Christenheit mehrfach durchleiden müssen, zuletzt im Bildersturm des aufkommenden Protestantismus. Für den Islam in seinen konservativen Auslegungen indessen ist der Glaube an die Wirkungsmacht der Kunst ungebrochen. Die Darstellung des Propheten ist ein Tabu. Über dessen archaische Ursprünge – das Bild, das den Abgebildeten magisch bannt – kann der Westen kenntnisreich räsonieren. Doch den gewaltsamen Folgen dieses Tabus entgeht er nicht. Darauf richtet sich die Furcht der Opernintendantin. Wenn ihre Panikreaktion ein Verdienst hat, dann das, die liberale Gesellschaft unvermittelt darauf gestoßen zu haben.

Die unausweichliche Schwäche des aufgeklärten Westens ist es, dem rigiden Anspruch des Islamismus nicht im Diskurs begegnen zu können. Der Kosmos der Werte schließt aus, konkurrierende Wertsysteme a priori zu verdammen. Mit dem Sowjetsystem ließ sich formal über Freiheit streiten, weil dies ein Wert war, den der Bolschewismus gleichfalls für sich reklamierte. Mit dem Islamismus gibt es diese sei’s auch nur ritualisierte Diskursmöglichkeit nicht, weil diesem die eigenen Werte als schlechthin nicht verhandelbar, als im Sinne der Freiheit Andersdenkender relativierbar gelten. Die Freiheit der Kunst ist dabei die bedrohteste Form von Freiheit, eben weil sie die ästhetisch begründete Unverbindlichkeit zur Voraussetzung hat, um jedwede Einschränkung zu negieren. In dieser spielerischen Negation liegt ihr Vermögen, Sichtweisen auszuprobieren, Blickwinkel zu verändern, kurz: Erkenntnis zu provozieren. Wo Erkenntnis nicht gewünscht, sondern als Angriff auf die eigenen Werte missverstanden wird, kann Kunst keine Freiheit erlangen.

Die vielfache Missbilligung der Berliner Opern-Absetzung enthält eine deutliche Botschaft: dass mit der Kunstfreiheit die Freiheit des Individuums als einem Grundpfeiler der abendländischen Gesellschaften auf dem Spiel steht. Principiis obsta, diese eindringliche Formel ragt aus der Antike herüber: Wehret den Anfängen. Hierzulande ist die Mahnung mit der eigenen, unheilvollen Geschichte aufs Engste verknüpft. Aus dem Schrecken der Nazi-Barbarei entstand der unbedingte Respekt vor der Freiheitsrechten des Einzelnen. Sie sind im Weltmaßstab mehr denn je bedroht.

Goethe hat es im „Faust“ so gesagt: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ Solches Pathos ist uns fremd geworden. Was damit aber ausgedrückt ist, rückt uns mit einem Mal ganz nahe.

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