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Sollte spalten statt versöhnen: Joachim Gauck, Bundespräsident in spe.

© dapd

Kontrapunkt: Gauck muss spalten statt versöhnen

Deutschland leidet nicht an zu viel Streit, sondern zu viel Konsens. Der neue Bundespräsident sollte widerständig sein und anecken - auch, um als Charakter authentisch zu bleiben. Die innere Freiheit des Christenmenschen muss stärker sein als die Kuschelrepublik.

Glaubwürdig kann nur der sein, der ist, wie er ist. Dem Gaukler droht der Verlust an Wahrhaftigkeit. Der Inszenator wird vom eigenen Licht geblendet. Im amerikanischen Vorwahlkampf der Republikaner spielt derzeit der Begriff "authenticity gap" eine wichtige Rolle. Sowohl Mitt Romney als auch Newt Gingrich haben mit dem Manko zu kämpfen, nicht authentisch zu wirken - der eine, weil er eine Gesundheitsreform kritisiert, die er selbst als Gouverneur von Massachusetts auf den Weg brachte; der andere, weil er Werte predigt, die er im eigenen privaten Leben mit Wollust verletzt.

Wahrhaftigkeit ist eine Größe in der Politik, ebenso wie das schillernde Wort "Charakter". Das vergessen Beobachter häufig, weil sie sich zu stark auf Parteien, Programme und Strategien konzentrieren. Dass Frank-Walter Steinmeier seiner kranken Ehefrau eine Niere spendete, ist für seine politische Karriere und Popularität entscheidender, als es seine früheren Leistungen - welche waren das noch mal? - als Bundesaußenminister sind. Bei Peer Steinbrück zählt nicht so sehr seine Krisenbewältigungsstrategie in Sachen Finanz- und Schuldenmalaise, sondern seine Bereitschaft, "klare Kante" auch gegen die eigenen Genossen zu zeigen. Das imponiert.

Weil dies ein Text mit Anlauf ist, sei ein weiterer Schwenk gestattet. Bei einem Charakter stimmen Form und Inhalt überein. Ins Negative gewendet können Form und Inhalt allerdings so weit auseinanderklaffen, dass alles Gesagte durch die Mediokrität des Sagenden in den Hintergrund tritt.

Die Misere der FDP etwa erklärt sich beileibe nicht erschöpfend durch Nickeligkeiten wie die vergünstigte Mehrwertsteuer für Hoteliers. Vielmehr sind es die Auftritte des irgendwie halberwachsen wirkenden Führungspersonals, von Philipp Rösler bis Daniel Bahr, die den Zuhörer oft an eine Kalendergeschichte von Bertolt Brecht denken lassen. Sie heißt "Weise am Weisen ist die Haltung", und sie geht so:

"Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: 'Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem.' Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: 'Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte.' - 'Es hat keinen Inhalt', sagte Herr K., 'ich sehe dich täppisch gehen, und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel, und es ist keine Helle, die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.'“

Er muss, im positiven Sinne, eine Zumutung sein

Angela Merkel wiederum verstellt sich nicht. Haltung und Ziel, Form und Inhalt: Das passt zusammen. Sie ist zwar eine schlechte, emotionslose Rednerin, misstrauisch und in der Öffentlichkeit eher wortkarg. Aber darin bleibt sie sich treu. Der Verzicht auf Pathos und große Geste entspricht ihrer pragmatischen, fast drögen Art, Politik zu machen. Deshalb können ihr selbst Missgriffe und Salti mortali nichts anhaben.

In wem hat sich Merkel nicht alles getäuscht! Horst Köhler, Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg. Was hat sie nicht alles über Bord geschmissen! Die Kernenergie, die Wehrpflicht, den konservativen Kern der Union. Dennoch fällt das öffentliche Urteil über sie positiv aus. Wer dem Volk aufs Maul hört, begreift, warum. "Sie sagt kein böses Wort über andere." - "Sie ist doch so fleißig." – "Leicht hat sie es wirklich nicht."

Nicht der Inhalt ihrer Politik steht auf dem Prüfstand - ob Deutschland Griechenland retten muss, um den Euro zu retten, und ob dafür zwei, zweihundert oder zweitausend Milliarden Euro nötig sind, versteht ohnehin keiner -, sondern ihre vorsichtige, bedächtige Art. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Amitai Etzioni hat den Begriff "Charakter" einmal als jenen "psychologischen Muskel" definiert, "der es einem Menschen erlaubt, Impulse zu kontrollieren und Belohnung aufzuschieben, was für Erfolg, Leistung und moralisches Handeln grundlegend ist". Merkel personifiziert Impulskontrolle und Frustrationstoleranz. In diesem Sinne hat sie Charakter.

Und jetzt zur Sache. Am kommenden Sonntag wird Joachim Gauck als Nachfolger von Christian Wulff von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt. In der Allparteienkoalition (abgesehen von NPD und Linken), die seine Nominierung trägt, drückt sich die Sehnsucht nach einem politischen Charakter auch im höchsten Amt aus. Doch genau das macht die Sache knifflig. Wenn Gauck sich selbst treu bleiben will, muss er dem Bild, das die Öffentlichkeit von ihm hat, entsprechen. Er muss widerständig bleiben, anecken, unbequem sein.

Das heißt, Gauck muss eher spalten als versöhnen. Er muss, im positiven Sinne, eine Zumutung sein. Die innere Freiheit eines Christenmenschen, die er in seinen Reden und Ansichten stets überzeugend verkörperte, darf er im neuen Amt nicht einem großgesellschaftlichen Konsens opfern. Hier ein bisschen Integration, dort ein bisschen Freiheit, hier ein bisschen Solidarität, dort ein bisschen Verantwortung: Das geht nicht. "Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel", heißt es bei Matthäus. Jede Stromlinienförmigkeit Gaucks würde ihm als Zugeständnis an den Mainstream verübelt. Ein weichgespülter Gauck - das wäre ein Widerspruch in sich.

Vielleicht wäre ein Bundespräsident als Spalter statt Versöhner fürs Land sogar gut. Wenn etwa am Weltfrauentag die Chefredakteurin der taz, Ines Pohl, den männlichen Redakteuren der "Bild"-Zeitung Kaffee vorbeibringt, nährt das doch sehr den Verdacht, dass die Deutschen auf dem Weg in die narkotisierende Friedefreudeeierkuchen-Mentalität schon viel zu weit vorangeschritten sind. Kuschelrepublik? Nein Danke.

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