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Kontrapunkt: Nie wieder Deutschland!

In der Eurokrise wird den Deutschen zum erstenmal seit Ende des Zweiten Weltkrieges ihr sehnlichster Wunsch verwehrt – geliebt zu werden, meint Malte Lehming. Das hat auch sein Gutes!

Es war einmal eine große, starke Nation. Sie blickte auf eine bewegte Vergangenheit zurück, war wirtschaftlich und kulturell erfolgreich. Doch genau das neidete man ihr. Sie sei arrogant, hieß es, eigennützig, selbstzufrieden, hege hegemoniale Absichten. Wann immer man in dieser Nation von Werten sprach, die es zu verteidigen gelte, schrie der Chor der Kritiker höhnisch zurück: Hypermoral! Wenn Entscheidungen getroffen wurden, ohne die Partner ausreichend konsultiert zu haben, brüllten die Verbündeten: Unilateralismus! Und wenn Forderungen erhoben wurden, etwa nach einer gerechten Verteilung von Lasten, beschwerte man sich über das Diktat. 

Ja, genau, das ist Amerika aus Sicht der Europäer. Verblüffend aber, dass es heute ebenso auf Deutschland aus Sicht der Europäer zutrifft. Angela Merkels Sparprogramm? Brutal, egoistisch, erpresserisch. Der Atomausstieg? Einseitig verkündet und womöglich fast so kurzsichtig wie der Irakkrieg von George W. Bush. Das Abseitsstehen beim Libyen-Feldzug? Pure Bequemlichkeit. Endlich, möchte man sagen, endlich erfahren die Deutschen einmal am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, verhasst zu sein, obwohl man doch ehrbare Absichten verfolgt. 

Insofern hat die europäische Schuldenkrise etwas Heilsames. Zum erstenmal seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird den Deutschen ihr sehnlichster Wunsch verwehrt, geliebt zu werden. Außerdem stellen sie fest, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Sympathie, die man ihnen entgegenbringt, und der Menge an Geld, das sie in die Sympathieträger investieren. Die Deutschen zu lieben – das ist eine käufliche Ware geworden in Europa. Folglich müssen die Deutschen lernen, was sie nie lernen wollten: Kritik zu ertragen und Ablehnung zu verkraften. 

Das erfordert Ich-Stärke und Identität. Wer immer nur geliebt werden will, das weiß jeder Paartherapeut, erzeugt ungleichgewichtige Beziehungsstrukturen. Konflikte erkennen, benennen und eben auch aushalten – das kennzeichnet einen erwachsenen Umgang mit der Realität. Vielen Deutschen ist das fremd. Ihr Grundgefühl ist das Sich-Schämen. Sie haben Angst davor, Spuren in der Welt zu hinterlassen. Daher ihr Hang zum Pazifismus, zur Ökologie, zur Wachstumsphobie. Der Begriff „Rohstoffe verbrauchen“ ist hierzulande negativ konnotiert. Am liebsten würden die Deutschen mit dem Abwasser, das sie produzieren, immer wieder neu ihre Wäsche waschen. Auch ihre Kinderarmut zeugt von Angst. 

Amerikaner, Russen, Israelis oder Franzosen etwa sind in dieser Beziehung unbefangener. Sie verfolgen ihre Interessen, opfern das Recht manchmal dem Richtigen (oder dem, was sie dafür halten) und lehnen präventive Nachgiebigkeit in der Politik ab. Den gesellschaftlich-psychologischen Entwicklungssprung in diese Riege vollziehen die Deutschen offenbar erst jetzt. Beim Geld, das spüren sie, hören Freundschaften auf. Das Kuschelglück muss warten. Willkommen im Club!

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