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Teilnehmer des "Hipster Winter Cup 2013".

© dpa

Lebensgefühl und Politik: Die Enthaltungskultur der Hipster

Der ironische Beobachter ist die Ikone unseres Zeitalters, spöttisch und distanziert blickt er auf die Welt: Der Hipster hat keine Haltung. Dagegen hilft nur eine Politik mit Pathos.

Von Anna Sauerbrey

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 2010 trafen sich in Brüssel die Regierungschefs der Euro-Länder, Vertreter der Europäischen Kommission, der Ratspräsident und der damalige Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet. Glaubt man den Berichten, war es eine dramatische Nachtsitzung. Erst im März hatten die Staatschef einen Notfallplan für Griechenland beschlossen. Doch in den Tagen vor dem Gipfeltreffen war deutlich geworden, dass die Märkte dennoch das Vertrauen in den Euro verloren und die Währung zu zerbrechen drohte. Bei dem Abendessen am Freitag skizzierte Trichet den Ernst der Lage und forderte die Regierungschefs zum Handeln auf. Auch Angela Merkel soll auf eine schnelle Entscheidung gedrängt haben, bevor die Märkte am Montag wieder öffnen würden. Am Ende sagten die Regierungschefs 750 Milliarden Euro an Bürgschaften zu. Ob das die Märkte tatsächlich beruhigen würde, konnten weder Angela Merkel noch die anderen Teilnehmer zu diesem Zeitpunkt mit Gewissheit voraussagen. Im schlimmsten Fall wären die Bürgschaften tatsächlich fällig geworden – wiederum mit unvorhersehbaren Auswirkungen.

Dieses Dilemma ist die extreme Form einer Standardsituation, mit der nicht nur Politiker jeden Tag konfrontiert sind: Das Fällen von Entscheidungen inmitten eines Nebels von Wissenshappen, Wahrscheinlichkeiten, Konjunktiven und Nichtwissen. Im Alltag entscheiden wir ständig aufgrund von eher minder als mehr gesicherten Annahmen über die Welt. Man schaut sich einen Kinofilm in der Annahme an, dass er einem ebenso gut gefallen wird wie dem Filmkritiker. Man geht am Fußgängerüberweg über eine Straße in der Annahme, dass das herannahende Auto bei Rot stehen bleiben wird. Man entscheidet sich im Restaurant für die Kürbissuppe in der Annahme, dass sie schmeckt. Keine dieser Annahmen kann streng genommen als Wissen gelten. Vielleicht hat der Filmkritiker einen ziemlich miesen Film nur deshalb gut bewertet, weil die Hauptdarstellerin ihn an seine erste große Liebe erinnert hat. Vielleicht ist der Autofahrer völlig betrunken. Vielleicht ist dem Koch das Salz ausgerutscht.

Das gesicherte Wissen über die soziale und politische Welt scheint sich immer mehr aufzulösen.

Unsicherheit charakterisiert einen Großteil aller Entscheidungen. Im Alltag ist das meist egal, denn aufgrund unserer Erfahrungen mit der Welt ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Erwartungen eintreten, relativ hoch. Die Folgen der meisten Alltagsentscheidungen wiederum sind überschaubar. Auf der Ebene von Politik und Gesellschaft allerdings scheinen einzelne Entscheidungen ungleich bedeutender und die Folgen ungleich schwieriger zu bewerten. Gleichzeitig scheint das gesicherte Wissen über die soziale und politische Welt sich immer mehr aufzulösen. Zumindest drängt das Gefühl des Verschwimmens der Tatsachen seit der Finanzkrise zunehmend ins Bewusstsein. Scheinbar unvereinbare Tatsachenbehauptungen häufen sich. Sind Vermögen in Deutschland immer ungleicher verteilt, mangelt es also an sozialer Gerechtigkeit? Oder spiegeln die Zahlen vielmehr ein Gefälle zwischen Ost und West, ist die Statistik also „nur“ Ausdruck einer historisch bedingten strukturellen Ungleichheit? Wie weit verbreitet ist der Sexismus? Laut einem Bericht des Familienministeriums haben 58 Prozent der Frauen Erfahrungen mit Sexismus gemacht. Unsinn, entgegnen Forscher des Hamburger Marktforschungsinstituts Sinus. Ob Ereignisse als Sexismus wahrgenommen werden, hänge vor allem davon ab, zu welchem Milieu man gehöre, mit welchen Interpretationsschemata man ausgestattet sei. Hat Deutschland wirtschaftlich von der europäischen Integration profitiert? Kostet ein weiterer Schuldenschnitt für Griechenland mehr als ein Grexit? Ist das Risiko von Fracking größer als der Gewinn? Am Klimawandel zweifeln nur noch wenige. Ansonsten gilt: Wir wissen, dass wir nichts wissen.

Die Politik selbst ist der Motor, der die Fliehkraft des Faktischen erzeugt, denn sie hat den Pragmatismus zum Leitbild politischen Handelns erklärt. Politische Begründungen sind nur noch selten normativ. Das Familienbild etwa wird nicht mehr durch Werte oder eine religiöse Begründung verteidigt, sondern mit demografischen oder ökonomischen Argumenten. Der Pragmatismus aber zwingt Politiker, für jedes Argument „Beweise“ zu finden, jede Entscheidung durch Zahlen zu untermauern. Statistiken ersetzen Ideologien und da Statistiken formbar sind wie Knete, hat sich noch für jede Behauptung eine Gegenbehauptung gefunden. Die Folge ist eine epidemieartige Ausbreitung der Unsicherheiten im politischen Raum und, unter den Wählern, ein verbreiteter Skeptizismus. Um nicht am Zweifel zu verzweifeln, wird das Zweifeln zum Prinzip erhoben.

Der Hipster wird zum Wappentier des 21. Jahrhunderts

Einer der bekanntesten und sympathischsten unter den großen Skeptikern der Philosophiegeschichte ist der Franzose Michel de Montaigne. Montaigne lebte im 16. Jahrhundert, zurzeit der Religionskriege, doch was er schreibt, trifft auf verblüffende Weise auch auf das 21. Jahrhundert zu. In seinem Essay „Über die Unsicherheit unseres Urteils“ liest man: „Man kann bei allem leicht dafür und dagegen sprechen.“ Montaigne argumentiert, im Grunde hänge der Ausgang aller Dinge vom Glück ab. „Und das Glück richtet sich nun einmal nicht nach unseren Überlegungen und Berechnungen.“ Montaignes Skeptizismus ist von der fröhlichen Sorte. „Der Mensch“, schreibt er an anderer Stelle, „ist wirklich ein wunderbar ungreifbares, verschiedenartiges und schwankendes Wesen: es ist schwierig, etwas dauernd und allgemein Gültiges über ihn auszusagen.“ Die Betonung liegt auf „wunderbar“. Montaigne akzeptierte, dass es kein gesichertes Wissen über die Welt gibt und genoss die Überraschungen, die diese Haltung mit sich brachte. Er tappte mit großer Gelassenheit durch den Nebel der Konjunktive. Die Konsequenz, die sich aus dieser Haltung für das Handeln ergibt, fasste der antike Skeptiker Sextus mit einem Wort: Epoché – Sich des Urteils enthalten. Montaigne ließ sich dieses Wort als Wahlspruch auf Medaillen prägen.

Und wie Epoché zum Wahlspruch Montaignes wurde, wird der Hipster zum Wappentier des 21. Jahrhundert. Im Philosophieblog der „New York Times“ hat die Princeton-Professorin Christy Wampole diese urbane Figur zur Ikone unseres Zeitalter erklärt, zu Recht. Wampole beschreibt den Hipster als personifizierte Ironie. Alles an ihm ist Distanz und Zitat und Spott und hohle Ästhetik. „Ironisch zu leben“, schreibt Wampole, „heißt, sich in der Öffentlichkeit zu verstecken.“ Tatsächlich ist das Maximum an (politischem) Standpunkt, zu dem sich die jungen, urbanen Coolen in New York und Berlin in der Lage sehen, eine Art Drive-by-Aktionismus: eine Unterschrift unter eine Onlinepetition, ein Flashmob, ein Button im Knopfloch. Der Tweet ersetzt das Parteibuch, das Statement das Argument. Der Hipster hat zu viel Abstand zur Welt, um sich die Frage nach ihrem Wesen zu stellen, geschweige denn, um an ihr zu leiden. Er ahnt, dass er nichts weiß, aber das verstört ihn nicht, im Gegenteil. Er feiert die Kapitulation vor der Komplexität der Welt als Befreiung. Seine Lebensweise ist ein absurder Superlativ von Montaignes „Ich enthalte mich“.

Einer der größten Verlierer der allgemeinen politischen Enthaltung ist die europäische Idee. Die Europäische Union bietet viele Gründe für tiefen Skeptizismus: Die Politik, so scheint es, verfängt sich im Geflecht der Interessen der 27. Das System ist so komplex, dass kaum absehbar ist, welche Wirkung ein Impuls letztlich erzielt. Als Gegengift gegen die Europa-Skepsis wird Pathos gefordert. Politiker und Medien servieren es als Rezept gegen den Brüsseler Pragmatismus, der sich in Fakten verheddert. Selbst ironische Naturelle wie Angela Merkel und Peer Steinbrück bemühen sich gelegentlich, diesem Wunsch nachzukommen. Pathos, das heißt bei Merkel und Steinbrück, von Versöhnung und Hoffnung zu sprechen. Da werden stets Hände gereicht, Kriege beendet, Bande der Freundschaft geknüpft, der Mauerfall und die Schlachtfelder und die Völkergemeinschaft und Zukunft-der-Jugend beschworen. Ist das schon Pathos?

In der antiken Rhetorik bezeichnete der Begriff noch nicht die Art und Weise zu reden, nicht den verschnörkelnden Wortkitsch, sondern die Haltung des Auditoriums. Aristoteles sah einen Zusammenhang zwischen dem emotionalen Zustand des Zuhörers (dem Pathos) und dessen Fähigkeit, das Gesagte zu begreifen. Um zu überzeugen, müsse der Redner nicht nur an den Geist appellieren, also Beweise anbringen, also pragmatisch argumentieren, sondern auch die Gefühle seiner Zuhörer ansprechen, sie rühren und aufstacheln. Dazu müsse allerdings auch der Redner in einer „bestimmten Verfassung“ sein, eine Haltung und Charakter haben, das Ethos.

Wenn Pathos aber die Haltung des Zuhörers ist, lässt es sich ungleich schwieriger künstlich hervorrufen. Die Verwendung vermeintlich aufgeladener Signalworte wie „Krieg“ und „Frieden“ reicht nicht aus, wenn es beim Zuhörer keine Schnittstelle gibt, die angesprochen werden kann. Zudem ist das Spiel mit dem Pathos in Deutschland historisch kontaminiertes Terrain ist. Der Begriff wird in die Nähe der Manipulation gerückt. Viele Deutsche sind bis heute allergisch gegen die Verbindung von Emotionalität und Politik – es sei denn, es geht um die Umwelt.

Keine Haltung zu haben, ist auch eine Haltung.

Trotzdem könnte der Verweis auf das Pathos einen Ausweg aus einem allzu defätistischen Skeptizismus weisen, aus der Hipsterfalle. Gefühle hervorzurufen steht bei dieser Variante der politischen Überzeugungskunst gleichrangig neben dem Appell an den Verstand, das heißt, beides wird als legitimer Zugang zur Erkenntnis der Wahrheit gewertet. Man könnte diesen gefühlsmäßigen Zugang zur Welt auch als Intuition bezeichnen.

Die gleiche Logik gilt auch für den resignierten Bürger, den in die Ironie geflüchteten Hipster

Das Pathos, wie Aristoteles es definiert, verweist darauf, dass Überzeugung und Wissen, Intuition und rationale Entscheidung ohnehin enger verwandt sind, als der pragmatische Politikstil es glauben machen will. Die innere Haltung eines Politikers und eines Bürgers zur Welt ergibt sich nicht aus zwei oder drei Statistiken oder aus einem Gespräch mit dem Fachreferenten, sondern aus einer größeren Fülle von Erfahrungen und Wissenshappen, die man teils bewusst, teils unbewusst zusammenführt, wenn man eine Entscheidung trifft.

In diesem Sinne kann man mit Montaigne die Verunsicherung über die Welt ins Positive wenden. Anders als sein Wahlspruch es suggeriert, hat sich der Philosoph nämlich keineswegs ständig enthalten. Als Berater des französischen Königs, als Bürgermeister von Bordeaux und als Eigentümer großer Ländereien traf er ständig Entscheidungen im vollen Bewusstsein seines unvollständigen Wissens, indem er die Intuition als Faktor akzeptierte und das Risiko einging, falsch zu liegen. Die Entscheidungsfreudigkeit des Skeptikers ist geprägt von intuitivem Optimismus. Der optimistische Skeptiker weiß, dass jede Entscheidungsgrundlage zwar unvollständig ist, aber aus Mangel an Alternativen schlicht hinreichend sein muss.

In seinem Essay „Das gleiche Ziel wird auf verschiedenen Wegen erreicht“ schildert Montaigne eine Entscheidungssituation, die der von Peer Steinbrück und Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Finanzkrise entspricht: Ein Fürst verfolgt einen Soldaten auf dem Schlachtfeld, um ihn zu töten. Als er ihn stellt, muss der Soldat entscheiden, welche Reaktion den Fürsten eher zur Gnade bewegen wird: Unterwürfigkeit oder Mut. Der Soldat kann nicht hinein in den Kopf des Fürsten. Seine Entscheidung, ob er auf die Knie fällt oder das Schwert zückt, fällt nicht pragmatisch, sondern intuitiv. Ist es ein weicher Zug um den Mundwinkel des Feldherren, der ihn bitten lässt? Oder die zwischen die Fürstenbrauen gezeichnete Furche, die seine Hand zur Waffe führt? Sicher ist nur: Wie der Soldat auch handelt, das Einzige, was ihn noch schlechter dastehen lässt, ist, keine Entscheidung zu treffen. Dann schlägt der Fürst zu.

Merkel und die übrigen Beteiligten konnten in jener Nacht die Reaktion der Märkte so wenig voraussagen, wie der Soldat die Gnadenneigung des Fürsten. Doch sie konnten sicher sein, dass jede Entscheidung besser sein würde als keine Entscheidung. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die Märkte sonst zuschlagen.

Die gleiche Logik gilt auch für den resignierten Bürger, den in die Ironie geflüchteten Hipster. Keine Entscheidung zu treffen, keine Haltung zu haben, ist auch eine Entscheidung, ist auch eine Haltung. Auch der Hipster wird durch Unentschlossenheit um seinen Kopf gebracht – oder zumindest um seine Rendite.

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