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Die Flaggen der EU-Mitgliedstaaten.

© Imago

Leserfrage an Sahra Wagenknecht:: Was für ein Europa wollen Sie, Frau Wagenknecht?

Im Tagesspiegel-Interview "Die EU ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie" hat die Vize-Vorsitzende der Linken die Europäische Union heftig kritisiert. Jetzt antwortet Wagenknecht unserem Leser, was sich aus ihrer Sicht ändern muss - und warum sie trotzdem für mehr Europa ist.

Unser Leser Thomas Isensee schrieb im Bezug auf das Interview: „Die EU ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie“ mit Sahra Wagenknecht:

Der reißerische Titel unterstellt Sahra Wagenknecht eine europafeindliche Einstellung, die von den Interviewern reflexhaft mit Nationalismus verknüpft wird. Dabei muss man nicht in der Linkspartei sein, um ein Demokratiedefizit bei der EU festzustellen. Das findet sich in jedem anständigen Text für den Schulunterricht. Und wie soll man militärische Aufrüstung ohne demokratische Kontrolle anders benennen als mit dem Begriff militaristisch? Was stört, ist vielmehr, dass Wagenknecht zwar Inhalte für ein verändertes Europa benennt, aber keine Alternativen zu einer Demokratisierung der europäischen Strukturen benennt. Und die Fragesteller haken dabei auch nicht nach. Dabei ist das doch der Schlüssel für die Durchsetzung einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Interessen der Mehrheit aufnimmt. Nur Großbanken und Industrie brauchen keine Demokratie: Die haben ihre gut ausgestatteten Lobbyapparate in Brüssel und gut in der Kommission vernetzte Mitarbeiter. Alle anderen brauchen sie aber!

Darauf antwortet nun die Vize-Vorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht:

Die Europäische Union (EU) hat ein Problem mit Demokratie: In Griechenland und Italien übernahmen zeitweise nicht gewählte, ehemalige Topbanker die Regierungsgeschäfte. Die Parlamente durften in der Euro-Krise Bankenrettungen nur noch abnicken, um das „Vertrauen der Finanzmärkte“ zu gewinnen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) griff die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei Volkswagen, die Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen oder das Streikrecht an. Und selbst Europaabgeordnete kennen die Details der Verhandlungen der EU-Kommission über das Freihandelsabkommen mit den USA nicht, während über 600 Wirtschaftslobbyisten exklusiven Zugang zu allen Dokumenten haben. Die nationalen Regierungen spielen daher oft über die Brüsseler Bande, wenn sie zu feige sind, Angriffe auf Demokratie und Sozialstaat zu verantworten.

Das zerstört die europäische Idee. Die Europawahlen sind längst eine Zwei-Klassen-Wahl, weil Menschen mit geringen Einkommen kaum noch wählen. Demokratie bedeutet nach einer Definition der Antike auch, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Demokratie ist daher der Schlüssel, um Europa den Reichen und Mächtigen zu nehmen. Die EU ist eine Vertragsgemeinschaft. Der Vertrag von Lissabon verpflichtet auf einen weitgehend ungehemmten Wettbewerb bzw. den Wettlauf um die niedrigsten Löhne, ökologische und soziale Standards. Die EU-Verträge enthalten auch ein Aufrüstungsgebot. Eine Änderung der Verträge ist jedoch nur mit Zustimmung aller 28 Mitgliedsstaaten möglich. Daher fordert Die Linke eine Neugründung der EU mit neuen Verträgen, die Volksabstimmungen unterworfen werden. Gesetzentwürfe der Linken für Volksabstimmungen zu EU-Verträgen wurden aber von den anderen Parteien im Bundestag bisher stets abgelehnt.

Nicht gegen, sondern für mehr Europäisierung

Es existiert zwar eine Europäische Bürgerinitiative (EBI). Die Hürden sind aber extrem hoch, und die EBI ist für die EU-Kommission unverbindlich. Eine Million EU-Bürger aus sieben EU-Staaten können die Kommission zu Gesetzesinitiativen auffordern. Die Kampagne „right2water“ gegen Wasserprivatisierung war erfolgreich. Dies ist aber eher die Ausnahme und war in Deutschland unter anderem dem Kabarettisten Erwin Pelzig zu verdanken, der im Fernsehen für die Initiative warb. Eine EBI, die nach der exklusiven Meinung der Kommission den Verträgen widerspricht, ist unzulässig. Eine Initiative für Abrüstung in Europa wäre somit unmöglich. Die Linke will die EBI zu einem echten Instrument direkter Demokratie ausbauen.

Es fehlt auch eine europäische Öffentlichkeit. Etwa europäische Medien: Der deutsch-französische Kultursender Arte ist eine rühmliche Ausnahme. Zudem macht es einen Unterschied, ob sich ein Spanier für eine Demonstration eine Zugfahrkarte nach Madrid oder Brüssel kaufen muss. Es ist kein Zufall, dass in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments (EP) regelmäßig mehr Lobbyisten als Abgeordnete sitzen. Die Schamgrenze sinkt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Daher verteidige ich auch die Rechte nationaler Parlamente.

Die Bundesregierung will etwa den Parlamentsvorbehalt des Bundestages bei Auslandseinsätzen überprüfen, um schnelle Einsätze der EU-Battlegroups zu ermöglichen. Etwa um wie Frankreich militärisch in Afrika mitzumischen. Dabei wurde die Rolle der Parlamente bei Auslandseinsätzen in Spanien und Großbritannien nach dem Irakkrieg erst gerade gestärkt. In London hat dies eine Intervention in Syrien verhindert.

Natürlich sind auch die Rechte des EP zu stärken. Es hat– abgesehen von Vertragsänderungen – kein eigenständiges Initiativrecht, um Gesetze auf den Weg zu bringen. Ich wünsche mir auch mehr europäische Zusammenarbeit, etwa in der Steuerpolitik. Ich würde es begrüßen, wenn die EU einheitliche Mindeststeuern für Konzerne und Vermögen bei breiten Bemessungsgrundlagen hätte, um den Steuertourismus zu unterbinden. Schließlich verliert Deutschland jährlich etwa 160 Milliarden Euro – einen halben Staatshaushalt – wegen Steuerhinterziehung- und -vermeidung. Für Uli Hoeneß, Deutsche Bank & Co. gilt in Europa: Wer betrügt, fliegt 1. Klasse!

Sahra Wagenknecht

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