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Kontrapunkt: Marshallplan als Vorbild

Libyen brodelt. Völlig offen ist, was geschieht, wenn Gaddafi fällt. Die Gefahren sind offensichtlich. Und die Chancen? Die Demokratie können Tunesier oder Ägypter nur selbst aufbauen. Die westlichen Demokratien müssen vor allem eines ändern: ihre Haltung.

Der spanische Ministerpräsident hat angeregt, dass die EU über eine Wiederaufbaubank nachdenken solle wie sie nach 1989 für Osteuropa geschaffen wurde. "Wahrscheinlich werden wir Zeuge, wie eine ganze Reihe neuer Demokratien entsteht", sagt Zapatero. Die deutsche "Stiftung Wissenschaft und Politik" plädiert nicht nur für eine Öffnung der europäischen Märkte für die Güter aus dieser Region. Sondern auch für eine gezielte Migrationspolitik, um der jungen Generation der arabischen Welt Chancen auf europäischen Arbeitsmärkten zu geben.

In solchen Vorschlägen deutet sich an, was in der offiziellen europäischen Politik unverändert fehlt: Eine optimistische Realpolitik, die den Faktor ernst nimmt, den die westliche Stabilitätspolitik gegenüber den arabischen Despotien übersehen hat. Nämlich die Hoffnungen und Lebensträume der jungen Bevölkerungen, die in Tunis oder auf dem Tahrir-Platz ihre Macht gezeigt haben. Der Fehler war so schwerwiegend, dass seine Überwindung fast der Quadratur des Kreises gleichkommt. Denn in diesen jungen Bevölkerungen ist nicht vergessen, dass der Westen von universellen Werten geredet und ihren Unterdrückern die Hand gereicht hat. Jede ernst gemeinte Hilfe muss deshalb den Eindruck von Paternalismus und Werteexport vermeiden.

Der Vergleich zum "Marshallplan", mit dem die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland auf die Beine geholfen haben, hinkt natürlich. Aber die ihm zugrunde liegende Haltung gibt die Richtung an, in die der Westen gehen muss. Das Urteil über die Deutschen war damals keineswegs ambivalent, sondern eindeutig. Es war zu recht vernichtend. Und doch waren die Sieger bereit, mit einer moralisch zerstörten Nation zu teilen und, wenn man so will, solidarisch zu sein. Denn sie hatten begriffen, dass nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine friedliche Zukunft gemeinsam und in Freiheit und einer halbwegs gerechten Wohlstandsverteilung gesucht werden musste.

Gemeinsam und hoffentlich in Freiheit werden unsere Kinder und Jugendlichen von heute ihr Leben und die Welt mit denen gestalten, die seit Januar 2001 in den arabischen Ländern nach Arbeit, Einkommen, Chancen rufen. Wenn die Älteren, vor allem die verantwortlichen Politiker nicht begreifen, dass schon die demographische Dynamik die Kräfteverhältnisse dramatisch verändert, dann verraten sie die Zukunftsinteressen ihrer eigen Kinder.

Es ist ein elementares Sicherheits- und Zukunftsinteresse der europäischen Demokratien, dass die arabische Jugend die Perspektiven aufbauen kann, nach denen sie sich so offensichtlich sehnt. Findet sie aber weder Arbeit noch Einkommen noch Selbstverwirklichung, dann werden die Aussichten auf eine zivile, freiheitlich, rechtsstaatliche Entwicklung in dieser Region so schwach wie im Europa nach dem Ersten Weltkrieg.

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