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40 Jahre Kniefall: Ostpolitik 3.0

Dass Deutschland Osteuropa die kalte Schulter zeigt, ist unklug. Die Einigung Europas ist noch lange nicht vorbei. Mit der Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien oder Armenien drängen weitere Staaten in die Mitte Europas, die Deutschland nicht Russland überlassen kann.

Es war eine ganz spontane Geste, mit der Willy Brandt vor 40 Jahren Weltgeschichte schrieb: Sein Kniefall vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau prägt bis heute den Blick Osteuropas auf die neue Bundesrepublik. Da gab es auf einmal ein Deutschland, das in den Ländern im Osten nicht mehr nur Untertanen und Feinde sah, sondern Partner. Partner, die es freilich dringend brauchte. Brandts Ostpolitik war ja nie altruistisch, auch nicht der Kniefall und die Warschauer Verträge. Der SPD-Kanzler wusste genau, dass er für eine Überwindung der deutschen Teilung zuerst die Menschen beiderseits des Eisernen Vorhangs zusammenbringen musste. Dazu musste er auf Polen und Russen zugehen. Auch die neue deutsche Ostpolitik nach der Einheit war kein Wunschkonzert.

Die deutsche Anwaltschaft zum EU- Beitritt Polens, des Baltikums und der anderen Staaten im Osten sollte zwar auch die unselige Geschichte des deutschen Vernichtungskrieges vergessen machen. Sie hatte aber auch den puren Selbstzweck, im um diese Staaten erweiterten Binnenmarkt mehr deutsche Waren absetzen zu können. Das hat hervorragend funktioniert, zu allen Ländern im Osten hat Deutschland gewaltige Exportüberschüsse – und die Kaufkraft der Osteuropäer steigt weiter. Polens Wirtschaft etwa ist als einzige der EU während der Wirtschaftskrise nicht geschrumpft, sondern gewachsen. Eigentlich Grund genug für ein positives Bild des Ostens. Doch davon ist in Deutschland kaum etwas zu hören.

Glaubt man Politikern aus Unionsparteien und der SPD, drohen im und aus dem Osten eine gefährliche Renationalisierung, eine Schwemme von Arbeitssuchenden nach dem Ende der Beschränkungen der Freizügigkeit ab Juni und eine Blockade der Handlungsfähigkeit Europas.

All diese Ängste hören sich an, als wünschte sich manch einer die Zeit des Kalten Krieges zurück. Dabei leidet Europa nicht unter einer Ost-West-Spaltung, sondern unter einer zwischen Norden und Süden. Nicht Polen oder Tschechen haben ihre Haushalte nicht im Griff oder bedrohen den Euro, sondern Griechen und Portugiesen. Nicht Slowaken oder Ungarn haben die Verträge von Nizza und Lissabon abgelehnt und die EU in die Krise geführt, sondern Dänen und Iren.

Dass Deutschland Osteuropa trotzdem die kalte Schulter zeigt, ist reichlich unklug. Ist doch die Einigung Europas noch lange nicht vorbei. Mit der Ukraine, Weißrussland, Moldau, Georgien oder Armenien drängen weitere Staaten in die Mitte Europas, die Deutschland nicht Russland überlassen kann. Geht es doch um knallharte Interessen. In Osteuropa gibt es ein gewaltiges Potenzial junger, gut ausgebildeter Menschen, von denen Deutschland viel lernen kann und die sich gut integrieren. Um sie sollte Berlin werben – mit gesteuerter Zuwanderung und Visa-Erleichterungen für die Ukraine, Weißrussland und die anderen Staaten der östlichen Nachbarschaft, mit mehr Investitionen in die Förderung der deutschen Sprache in der Region, mit einer Unterstützung der Annäherung dieser Länder an die EU.

Die Staaten des Ostens, sie bringen Ideen und kulturelle Bereicherung ins Land. Ob Klitschko, Podolski oder Alexandra Maria Lara: Nicht nur in Show und Sport, sondern auch bei Facharbeitern, Pflege und Handwerk wird Deutschland seine demografischen Probleme nur dann in den Griff bekommen, wenn es sich seiner alten Tradition nicht als Usurpator, sondern als Integrator der Staaten des Ostens besinnt. Willy Brandts Kniefall ist dafür eine Gedächtnisstütze.

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