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Premier mit Prämisse: Erdogan wandelt den Säkularstaat Türkei

© dpa

Paradigmenwechseln in der Türkei: Erdogan formt eine Revolution mit Kopftuch

Im türkischen Parlament ist das Kopftuch wieder erlaubt. Mit erstaunlich wenig Getöse hat Erdogan damit eine der letzten Bastionen des traditionellen Staatsverständnisses der Türkei gekippt. Für den Aufbau seiner neuen Türkei hat der Premier eigene Ziele.

Elf Jahre nach dem ersten Wahlsieg der Erdogan-Partei AKP hat das türkische Parlament mit dem Ende des Kopftuchverbots im Plenum einen historischen Schritt getan. Die von den alten säkularistischen Eliten in Armee, Justiz und Bürokratie verachteten islamisch-konservativen Türken haben ihr wichtigstes Symbol ins Allerheiligste der Republik getragen. Mit erstaunlich wenig Getöse ist damit eine der letzten Bastionen des traditionellen Staatsverständnisses der Türkei gefallen. Nun geht es an den Aufbau einer neuen Türkei – ob diese demokratischer sein wird als die alte, muss sich aber erst noch beweisen.

Dass die alte Ordnung undemokratisch war, steht außer Frage. Es war absurd, dass in einem zu 99 Prozent muslimischen Land junge Frauen mit Kopftuch ins christliche Europa oder in die USA umziehen mussten, wenn sie studieren wollten. Säkularisten in Führungspositionen hielten sich für modern und demokratisch, fanden aber nichts dabei, Millionen von Frauen von Hochschulbildung und Berufsleben auszuschließen – und diese dann als ungebildet abzutun. Nicht ohne Grund lautet einer von Erdogans Lieblingssätzen, dass auch seine Leute gleichberechtigte Bürger der Türkei seien: Der Ministerpräsident vertritt die Verlierer des alten Systems.

In den vergangenen elf Jahren ist dieses alte System Stück für Stück zerlegt worden. Die Militärs? Entmachtet und durch Putschprozesse gedemütigt. Die Justiz und die Bürokratie? Durch neues Personal ideologisch neu ausgerichtet. Die alten Wirtschaftseliten erhielten Konkurrenz durch fromm-islamische Unternehmer, die als „islamische Calvinisten“ Furore machten und reich wurden. Plötzlich schlenderten Kopftuch tragende Frauen durch die Läden edler Einkaufszentren. Früher haben sie dort höchstens die Toiletten geputzt.

Erdogan will die Türkei reformieren - doch anders, als es sich die Gezi-Demonstranten wünschen

Kein Wunder, dass sich die Säkularisten bedroht fühlten. Die Armee drohte mit Putsch, das Verfassungsgericht beugte das Recht, um die Wahl von Erdogans Mitstreiter Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Genützt hat es nichts, denn Erdogan hatte die Mehrheit der Wähler hinter sich. Es ist ein großer Verdienst aller politischer Lager in der Türkei, dass diese Revolution ohne Blutvergießen vonstatten ging.

Nun baut Erdogan „seine“ neue Türkei, doch die Vergangenheit spielt eine wichtige und nicht immer gute Rolle. Hinter den Gezi-Protesten vom Juni sah Erdogan seine alten säkularistischen Gegenspieler, die wieder die Macht erobern wollten. Der Premier reagierte mit Härte und einer verstärkten Hinwendung an die islamisch-konservative Wählerschaft. Zwar betonte er nach dem Ende des Kopftuchverbots im Parlament die Gleichberechtigung aller Frauen, egal ob sie ihr Haar verhüllen oder nicht. Doch er sagte auch, dass das Kopftuch eine Regel im Islam sei – der Regierungschef eines laizistischen Staates als Ausleger religiöser Fragen.

Noch bedenklicher ist, dass nach elf Jahren AKP die Grenzen zwischen Staat und Regierungspartei immer mehr verschwimmen. Unternehmen, die den Zorn des Ministerpräsidenten auf sich ziehen, erhalten plötzlich Besuch von der Steuerfahndung. Regierungskritische Journalisten verlieren ihre Jobs. Ein führender AKP-Politiker meckert über das angeblich zu offenherzige Kleid einer Fernseh-Moderatorin, und prompt wird die Frau gefeuert. Nach dem Ende des Kopftuchstreites hat Erdogans neue Türkei die Chance auf mehr Demokratie und Pluralismus. Ob sie diese Chance nutzt, ist noch offen.

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