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Rederecht im Bundestag: Abweichler beleben das Parlament

Bundestagspräsident Norbert Lammert ist für seine eigene Partei, die CDU, oft unbequem, erteilt auch Abweichlern im Parlament das Wort. Lammerts Spielräume sollen nun eingeschränkt werden. Lasst sie doch reden!

Da wundern sich nun viele, dass die Piratenpartei einen kleinen kometenhaften Aufschwung hinlegt. Einfach, weil sie anders ist als die anderen – und irgendwie „interessant“. Bevor die etablierten Parteien sich darüber aufregen, sollten sie sich an die eigene Nase fassen und sich fragen, weshalb ihr gewöhnliches Geschäft für so viele jüngere – und leider auch für viele lebenserfahrene – Leute sich so langweilig und ritualisiert ausnimmt. Und dann könnten sie sich ja gleich auch noch fragen, ob es wirklich so schlau ist, Bundestagspräsident Norbert Lammert ins Handwerk zu pfuschen.

Denn höchst parteiübergreifend schicken sich die Fraktionsführungen im Bundestag an, ihre Debatten noch langweiliger und noch risikoärmer zu „gestalten“. Zu diesem Zwecke soll der Bundestagspräsident in seinem Recht, die Sitzung zu leiten und deren Ablauf möglichst lebendig zu gestalten, empfindlich eingeschränkt werden. Hatte Lammert noch in der Debatte über die sogenannte Euro-Rettung zwei Abgeordneten der Regierungsfraktionen das Wort zu einer abweichenden Stellungnahme erteilt, wollen die Fraktionsführungen künftig ihre Dissidenten noch enger an die Leine legen. Der Bundestagspräsident soll Abweichlern nur noch dann das Wort erteilen können, wenn er deren Fraktionschefs gefragt hat – und dann allenfalls für drei Minuten. Und einer der Betreiber dieser Kastration des Bundestagspräsidenten hat auch noch die Stirn, die Öffentlichkeit über diese Absicht zu beschwindeln: Es gehe doch nur darum, den Versuch der Linkspartei zu blockieren, sich mehr Redezeit herauszuschinden. Ja, warum müssen denn dann ausgerechnet die Abweichler in der Union, der FDP und der SPD das Maul halten – oder es allenfalls mit der Genehmigung ihrer Chefs spitzen dürfen, und zwar noch weniger als bisher schon?

Gewiss, das parlamentarische Geschäft braucht vorstrukturierende Organisationen, eben die Fraktionen. Wenn jeder der gut 600 Abgeordneten ungeordnet so daherdenken und -reden könnte, kämen politische Entscheidungen kaum zustande. Politik besteht eben auch darin, vielfältig verschachtelte Vielleicht-so-oder-so-Optionen auf schlichte Ja-Nein-Entscheidungen herunterzukürzen. Aber dieser Sachzwang darf nicht so weit getrieben werden, dass man am Ende gar nicht mehr erkennen darf, wie schwer sich ein politischer Verstand damit tut, die gegenläufigen Argumente zu überwinden oder zu verdrängen.

Aber auch um der Verfassung willen gilt: Die Fraktionen sind für die Abgeordneten da – nicht aber die Abgeordneten für die Fraktionen. Alle inneren Strukturen des Parlaments müssen den Abgeordneten dabei helfen, ihrem Verfassungsauftrag nachzukommen, allein ihrem Gewissen folgend Entscheidungen vorzubereiten und zu fällen. Keinesfalls dürfen die Abgeordneten zum Kadavergehorsam einbestellt werden. Klar, wenn eine Fraktion sich in freier Debatte zu einer Mehrheitsmeinung durchgerungen hat, dann hat diese ein beachtliches Gewicht. Haben jedoch einzelne Abgeordnete dennoch so große Bedenken, dass sie diese trotz des ihnen in der Fraktion darob drohenden Bierverschisses vortragen wollen, dann müssen sie auch Gehör finden können. Sonst kann man gleich die Debatten auf den amtlichen Vortrag der Fraktionsführer beschränken und sich viel Zeit sparen.

Norbert Lammert hat in der jüngeren Vergangenheit mehrmals die Rechte des Parlaments gegenüber der Bundesregierung angemahnt, also nach außen. Da ist es nur logisch, dass er auch die Rechte des Parlaments nach innen, also die Rechte der einzelnen Abgeordneten verteidigt; schwach genug sind sie ohnehin geworden. Also: Hände weg von der Geschäftsordnung – und vom Handlungsspielraum des Bundestagspräsidenten!

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