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Was WISSEN schafft: Mutti ist an allem schuld

Der neue Irrglaube an die Machbarkeit des Menschen.

Es ist schon merkwürdig. Alles, was „natürlich“ ist, steht hoch im Kurs, „Natur“ und „Bio“ sind Schlagwörter der Stunde. Nur dann nicht, wenn es um uns selbst geht. Die Vorstellung von einer menschlichen Natur macht eher misstrauisch, riecht nach Biologismus. Was an der Umwelt geschätzt wird, ihre Beständigkeit, Urwüchsigkeit, der immer gleiche Lauf der Dinge, ist beim Menschen suspekt. Ein unveränderlicher Charakter, ein Naturell, das uns in die Wiege gelegt wird, weckt Unbehagen. Der moderne Mensch will sich nicht auf eine Rolle und ein Schicksal festlegen, er will alles sein können, und alles soll möglich sein. Wer ihm das verspricht, hat schon gewonnen. Bücher wie „Jedes Kind ist hochbegabt“ stehen hoch im Kurs.

Du kannst sein, was du sein willst: Es gibt so manche wissenschaftliche Disziplin, die diesem Wunsch entgegenzukommen scheint. Nirgendwo jedoch wird die Machbarkeitsidee weiter getrieben als bei einigen Anhängern der Epigenetik. Sie enthält den Schlüssel für den „Sieg über die Gene“, wie es der „Spiegel“ einmal in einer Titelgeschichte auf den Punkt brachte. Oder zumindest scheint es so. Was genau Epigenetik ist, ist dabei jedoch nach wie vor umstritten. Nach einer halbwegs populären Umschreibung beschäftigt sich die Genetik damit, was die Gene mit der Umwelt machen, die Epigenetik dagegen mit dem, was die Umwelt mit den Genen macht.

Sind die Gene mit unlöschbarer Tinte geschrieben, kann man sich die Epigenetik als biochemische Bleistiftmarkierungen auf diesem genetischen Text vorstellen. Meist lautet die Notiz: Dieses Gen bitte nicht benutzen! Das hängt damit zusammen, dass die Körperzellen je nach ihrer Spezialisierung (Hirn, Herz, Leber etc.) nur einen Teil ihrer Erbanlagen benötigen. Der Rest wird vorübergehend stillgelegt. Ein besonders anschauliches Beispiel sind Raupe und Schmetterling. Gleiches Genom, anderes Epigenom. Wobei ein Großteil der epigenetischen Prozesse paradoxerweise genetisch festgelegt sind.

Auch Umwelteinflüsse hinterlassen epigenetische Spuren, führen zum An- oder Ausknipsen von Erbanlagen. Da die epigenetischen Markierungen nur „mit Bleistift geschrieben“ sind, lassen sie sich jedoch ausradieren. Und sie werden, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Umfang an die nächste Generation vererbt. Deshalb ist die Behauptung von Epigenetik-Fans, es handle sich um einen „zweiten Code“, stark übertrieben. Konkret heißt das: Wer seinen Körper beim Bodybuilding stählt, bekommt deshalb noch lange keinen Muskelprotz als Sohn.

Die Forschung ist in ein kompliziertes und verwirrendes Netzwerk von Beziehungen zwischen Genen und Umwelt vorgestoßen. Noch ist oft nicht wirklich verstanden, welche Bedeutung dieses epigenetische Flechtwerk zum Beispiel für chronische Krankheiten wie Krebs und ihre Bekämpfung hat, geschweige denn für komplexe seelisch-körperliche Zusammenhänge.

Seriöse Forscher halten sich mit weitreichenden Schlussfolgerungen und Urteilen eher zurück. Doch es gibt genügend Wissenschaftler, die nicht so viele Skrupel haben und sich an Spekulationen beteiligen. Etwa darüber, „wie wir unser Erbgut steuern“, „wie Erfahrungen vererbt werden“ oder „wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ – so lauten Untertitel populärwissenschaftlicher Bücher zur Epigenetik.

Nach einer Phase der Entmündigung durch das scheinbar allmächtige Genom hat der Mensch also wieder das Steuerruder übernommen und zeigt den Genen, wo’s langgeht zum idealen Ich. Allerdings sollte man von den Ratschlägen der Epigenetiker nicht allzu viel erwarten. Es sind eher Allgemeinplätze. Stress vermeiden, Freundschaften pflegen, Sport treiben, gesunde Ernährung und dergleichen. Schaden kann es nicht, ihnen zu folgen.

Leider bleibt es nicht immer dabei. Denn in ihrer Lust am Schwadronieren neigen manche Forscher zu weitreichenden Schuldzuweisungen. Sie machen den Lebensstil und das Alter des Vaters und das lieblose Verhalten der Mutter vor und nach der Geburt dafür verantwortlich, dass, natürlich via Epigenetik, der Sprössling später im Leben schwere seelische Probleme hat. Am Ende sind also nicht die Gene, sondern Mutti und Vati an allem schuld. So schließt sich der Kreis.

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