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Ein Demonstrant vor dem Reichstag.

© dpa

Occupy-Aktionstag: Woodstock am Kanzleramt

Je größer die Demos, desto konservativer die Regierung: Der deutsche Ableger der "Occupy"-Bewegung kann mit diesem Aktionstag mehr als zufrieden sein, meint Malte Lehming. Immerhin kamen fast so viele wie zum Ponymarkt in Hunteburg.

Die Zahlen schwanken noch, aber großzügig geschätzt lässt sich festhalten: 10.000 in Berlin, 8000 in Frankfurt am Main, 1500 in Köln, 1000 in München, 5000 in Hamburg – der deutsche Ableger der kapitalismuskritischen Anti-Banken-Bewegung („Occupy Wall Street“) ist ganz ordentlich gestartet. Immerhin konnten fast so viele Menschen mobilisiert werden wie beim norddeutschen Ponymarkt in Hunteburg vor einer Woche. Entsprechend liebevoll werden die Aktivisten von der offiziellen Politik umarmt. Vertreter aller Parteien, bis hin zur FDP, bekunden viel Verständnis für deren Anliegen.

„By the time we got to Woodstock, we were half a million strong“, singen Crosby, Stills, Nash & Young. “And we got to get ourselves back to the garden.” Doch Masse kulminiert nicht immer in Macht. Manchmal passiert das Gegenteil. 1967 wurde in Berlin gegen den Schah-Besuch demonstriert (Benno Ohnesorg). Jahre später trat der Schah zwar ab, doch ersetzt wurde er durch Ayatollah Chomeini, dessen fundamentalistisches Regime sich als weitaus ärger entpuppte. In den USA formierte sich von 1965 bis 1968 die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Im November 1968 mündete sie in der Wahl des Republikaners Richard Nixon zum neuen US-Präsidenten, der den Krieg nach Laos und Kambodscha ausweitete und die Entscheidung mittels Flächenbombardements herbeiführen wollte.

Im Sommer 1969 dann Woodstock, und im Oktober demonstrierten in Washington schon 250.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg. Ein Jahr später wurden vier protestierende Studenten an der Kent State University im US-Bundesstaat Ohio von der Nationalgarde erschossen (Neil Young: „Four Dead in Ohio“). Doch zwei Jahre später wurde Nixon mit sehr großer Mehrheit wiedergewählt. Sein Gegenkandidat, George McGovern, hatte sich unter dem Druck der Straße ganz auf die Seite der Vietnamkriegsgegner gestellt. Die Republikaner hatten es leicht, ihn als radikalen Verrückten darzustellen.

Im Jahre 2004 wiederholte sich das Muster. Am Tag der Präsidentschaftswahl war der Irakkrieg bereits 18 Monate alt. Massenvernichtungswaffen waren nicht gefunden worden, die Friedensbewegung hatte weltweit Millionen Menschen mobilisiert, ein Jahr zuvor hatte das Magazin „Newsweek“ enthüllt, welcher Tricks sich Vizepräsident Dick Cheney bedient hatte, um gegen Saddam Hussein die US-Truppen ins Feld zu schicken, und Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz hatte eingeräumt, dass seine Regierung die Sache mit dem Massenvernichtungswaffen nur „aus bürokratischen Gründen“ angeführt hatte. Dennoch wurde George W. Bush mit großem Abstand wiedergewählt. Sein Vorsprung vor John Kerry betrug in absoluten Zahlen 3,5 Millionen Stimmen. Für Bush hatten mehr Amerikaner gestimmt als je zuvor für einen US-Präsidenten.

Je größer die Demos, desto konservativer die Regierung: Auch aus Deutschland ist dieser Mechanismus bekannt. Die bis dahin größte Friedensdemonstration fand am 10. Oktober 1981 in Bonn gegen die Nato-Nachrüstung statt. Sie führte zum Rücktritt von Helmut Schmidt und der Kanzlerschaft von Helmut Kohl, die 16 Jahre dauern sollte.

So gesehen hat der deutsche „Occupy“-Ableger allen Grund, mit den Teilnehmerzahlen an diesem Samstag zufrieden zu sein. Für die Schlagzeilen hat’s gereicht, mehr hätte kontraproduktiv sein können.

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