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Selbstmord in Stammheim. Oder doch nicht? Das Bild zeigt die Totenmasken von Gudrun Ensslin (von links), Andreas Baader und Jan-Carl Raspe.

© dapd

35 Jahre nach der „Todesnacht von Stammheim“: Ensslins Bruder will es wissen

Der deutsche Herbst lässt noch immer Fragen offen.

Gottfried Ensslin ist ein älterer Herr mit Glatze und offenem Blick. Im Alltag ein unauffälliger Rentner in Berlin. Am Donnerstag aber stand er im Mittelpunkt: ein Auftritt in einem Café, vor den Medien. Denn genau 35 Jahre zuvor, am 18. Oktober 1977, wurde seine Schwester in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim erhängt gefunden – Gudrun Ensslin, eine der RAF-Führungsfiguren. Auch Andreas Baader und Jan-Carl Raspe waren tot, neben jedem lag eine Pistole. Für die Staatsanwaltschaft waren es Selbstmorde, so das Resultat eines Ermittlungsverfahrens. Die Terroristin Irmgard Möller wurde mit Stichwunden in der Herzgegend gefunden, sie überlebte aber.

Selbstmord? Daran hat Ensslin Zweifel. Neben ihm sitzt der Buchautor Helge Lehmann. Er hat die Nacht von Stammheim noch einmal untersucht, mithilfe von Zeitzeugen und Unterlagen. Auch er hat Zweifel. 31 Punkte hat er aufgelistet, die ihm seltsam vorkommen. 31 Fragen, auf die er Antworten möchte. Am Donnerstag haben die beiden einen Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen gestellt. Sie behaupten nicht, es war Mord, sie wollen nur „Klarheit“.

An den Händen der Toten hätten Schmauchspuren gefehlt. Der Beton der Wände sei viel zu hart gewesen, um einen Hohlraum für eine Pistole auszuschachten. Der einzige Wärter im Trakt in dieser Nacht sei abgezogen worden. Freie Bahn also für Unbekannte. Und: Der RAF-Kurier Volker Speitel, der erklärt hatte, er habe die Pistolen besorgt und RAF-Anwälte hätten sie ins Gefängnis geschmuggelt, sei nicht glaubhaft. Das sind einige der 31 Punkte.

Gänzlich unmöglich ist ja nie etwas, und im deutschen Herbst konnte man sich vieles vorstellen. Andererseits gibt es einfach viele Indizien für Selbstmord. Speitel zeigte der Polizei ein Depot, in dem die Griffschalen jener Pistolen lagen, die bei Baader und Raspe gefunden wurden. Speitel wies sogar auf eine Pistole hin, die noch in Stammheim versteckt sein müsse. Die Beamten wurden fündig. Vor der Todesnacht wurde der RAF-Bereich umgebaut, im Flur standen Baumaterialien. Raspe schmuggelte einen Hammer und Schraubenzieher in seine Zelle; nach Baaders Tod fanden Beamte in seiner Zelle eine Kaffee-Packung mit Gips. Und ein Untersuchungsausschuss stellte fest: „Der Wandputz konnte mit der Hand weggekratzt werden.“ Vor allem aber berichtete das RAF-Mitglied Monika Helbing, die RAF-Führungsfrau Brigitte Mohnhaupt habe intern von einer „suicide action“ gesprochen.

Lehmann kennt das alles, trotzdem sagt er: „Ich bin vielleicht blauäugig. Aber ich möchte schon, dass die 31 Punkte geklärt werden.“ Auch Ensslin ist nicht naiv. „Das alles“, seufzt er, „kann lange dauern.“

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