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Ohne Votum zum Betreuungsgeld. Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (rechts) verlässt am Freitag die Sitzung des Bundestages.

© dpa

Betreuungsgeld-Abstimmung: Hammelsprung mit Folgen

Formal ist der Bundestag nur beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Saal ist. Praktisch zählt so gut wie nie einer nach. Am Freitag war das anders. War die geplatzte Abstimmung zum Betreuungsgeld Zufall oder abgesprochen?

Von Robert Birnbaum

Hermann Gröhe schäumt vor den Kameras. „Das ist ein einmaliger, ein ungeheuerlicher Vorgang“, schimpft der CDU-Generalsekretär. Der CSU-Kollege Alexander Dobrindt neben ihm schaut beifällig durch seine dicke Brille. „Schäbig“, schimpft Gröhe weiter, „Boykott des Parlaments“, „Missbrauch der Regeln“, „Trickkiste“. Man erkennt ihn kaum wieder, den sonst so verbindlichen Christdemokraten-General. Aber gut, er hat Anlass, sich aufzuregen. Die Opposition hat eine Abstimmung über eine Lappalie genutzt, um die Sitzung des Bundestages am Freitagmittag abrupt zu beenden. Und das führt dazu, dass es mit dem Betreuungsgeld so schnell nichts wird.

Das Unwetter kommt ohne jede Vorankündigung. Im Plenarsaal herrscht gegen 11 Uhr vormittags gedämpfte Geschäftigkeit. Der Saal ist mäßig gefüllt, was völlig normal ist. Es geht um ein Spezialthema für Spezialisten, das Presse-Grosso. Das ist das Vertriebssystem, das dafür sorgt, dass Zeitungen und Magazine in den letzten Dorfkiosk gelangen. Die Regierung will das Wettbewerbsrecht hier etwas lockern. Die amtierende Parlamentspräsidentin Petra Pau von den Linken ruft den Koalitionsantrag zur Abstimmung, kurzes Handaufheben, Mehrheit, angenommen. Der nächste Antrag von SPD und Grünen, wieder Handaufheben, dafür, dagegen ...

Doch da nimmt das Unheil seinen Lauf. „Das ist nicht eindeutig“, raunt eine der Schriftführerinnen der Präsidentin zu. Pau bittet alle, noch mal die Hand zu heben. Wieder ist sich das Sitzungspräsidium nicht einig. Von hinten springt der Mann herbei, der die Geschäftsordnung im Kopf hat. Pau nickt: Hammelsprung.

Das Sitzungsende im Video:

Der Hammelsprung ist das Verfahren, mit dem unklare Mehrheiten ausgezählt werden: Alle gehen raus aus dem Plenarsaal in die Lobby, dann kommt jeder einzeln wieder rein durch eine der drei Glastüren, über denen Ja, Nein und Enthaltung steht. Der Hammelsprung hat freilich eine Nebenwirkung: Er zeigt genau, wie viele da sind. Das interessiert sonst keinen Menschen. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament, Arbeitsgruppen und Ausschüsse tagen parallel zum Plenum – kurz, es ist weder nötig noch vorgesehen, dass an jeder Debatte und Abstimmung alle teilnehmen. Formal ist der Bundestag nur beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Saal ist. Praktisch zählt so gut wie nie einer nach.

Aber jetzt wird automatisch gezählt. Bei Union und FDP wird es hektisch. Die Geschäftsführer versuchen ranzutrommeln, wer noch greifbar ist. Doch am Freitag gegen Mittag sitzen Abgeordnete oft schon in Bahn und Flugzeug. Selbst ein Funktionsträger wie der Grünen-Geschäftsführer Volker Beck ist auf dem Sprung, mit gutem Grund – er muss nach Düsseldorf zum Landesparteitag.

Fluchend ziehen die Koalitionäre ab

Während also bei der Koalition Hektik losbricht, bricht, wenn man so sagen darf, bei der Opposition die Gemütsruhe aus. Gut 70 Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken verlassen den Plenarsaal. Sie kommen aber nicht wieder rein. Draußen in der Lobby stehen sie, plaudern, feixen; und wenn einer das Spiel noch nicht begriffen hat und auf eine der Hammelsprungtüren zustrebt, dann zupfen ihn andere beim Ärmel zurück. Am Ende steht fest: 204 Koalitionsabgeordnete haben gegen sieben von der Opposition gestimmt. Das sind zusammen aber nur 211 der 620 Mitglieder des Hauses. Pau beendet die Sitzung.

Fluchend ziehen die Koalitionäre ab. Grummelnd ziehen sich die Geschäftsführer zur Beratung in den Ältestenrat zurück. Verschwörungstheorien machen die Runde – das sei doch vorher abgekaspert worden von der Opposition, raunt ein Unionsmann. Und Pau – verdächtig schnell sei das gegangen mit dem Hammelsprung! Aber Pau hält dagegen, sie habe genug Zeit gelassen für den Abstimmungsalarm: „Es hat geklingelt von der Toilette bis zur Tiefgarage!“ Bei SPD und Grünen schwören sie Stein und Bein, dass man bloß die Gelegenheit ergriffen habe. Sie grinsen trotzdem diabolisch.

Tatsächlich ist der Vorgang nicht einmalig – 54 Fälle dieser Art vermerkt das Handbuch des Bundestages. Doch so offen ins Messer laufen lassen hat eine Opposition eine Regierung lange nicht. So folgenreich auch nicht: Die erste Beratung des Betreuungsgeldgesetzes wäre übernächster Punkt auf der Tagesordnung gewesen. „Der Bundestag war ja ohne Zweifel beschlussfähig“, zürnt Gröhe. Draußen vor der Tür stehen bleiben – Missbrauch der Geschäftsordnung sei das! Der Grüne Beck hält vergiftete Geschäftsordnungsgrundsätze dagegen. „Die Opposition kann nicht die Mehrheiten für die Koalition garantieren“, sagt er.

Dobrindt übrigens hat zu alledem erklärt, dieses „kleine dreckige Foulspiel“, das ärgere ihn. Für seine Verhältnisse sind das zahme Töne. Aber Horst Seehofers Mann fürs Grobe kann eben um die Ecke denken. Bis zu diesem Freitag war ungewiss, dass die Mehrheit für das Betreuungsgeld bei FDP und CDU steht. Darum sollte das leidige Thema vor dem Sommer erledigt sein. Doch am Nachmittag verzichtet die Union auf eine Sondersitzung. Es eilt nicht mehr. Auf den ersten Blick stehen Union und FDP blamiert da. Doch der Coup von Roten und Grünen hat eine Nebenwirkung: dass Horst Seehofers Wille Gesetz wird, das ist ab jetzt eine Frage der Koalitionsehre.

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