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Wie hier vorgestern gingen die Angriffe in Aleppo auch am Donnerstag weiter.

© REUTERS

Bürgerkrieg in Syrien: Das Kartell der Heuchler vom East River

Frieden fordern und Bomben werfen – das ist blanker Zynismus.

Zu den entsetzlichsten Momenten der Geschichte gehören jene, in denen eine furchtbare Vergangenheit plötzlich wieder lebendig zu werden scheint. Wenn sich erneut ereignet, was der mitfühlende, zur Empathie fähige Teil der zivilisierten Menschheit glaubte, ein für alle mal in den Giftschrank mit der Aufschrift „Nie wieder“ eingeschlossen zu haben.

Eine solchen schier endlosen Augenblick, in dem sich die Pupillen vor Entsetzen weiten, durchleiden die Einwohner der syrischen Großstadt Aleppo. Das Urbild dieser Horrorvision entstand ziemlich genau vor 75 Jahren, im September 1941, im russischen Leningrad, dem heutigen St. Petersburg.

Vier Wochen nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion hatte die deutsche Wehrmacht die Millionenstadt eingeschlossen. Erobert werden sollte sie nicht. Der Befehl Hitlers lautete, die Bevölkerung durch dauernden Beschuss der Artillerie, durch anhaltende Bombardierungen der deutschen Luftwaffe, und durch Hunger und Krankheit zu vernichten.

900 Tage dauerte das Martyrium der Leningrader. 1,1 Millionen von ihnen starben. Fast genauso viele Soldaten verlor die Rote Armee bei der Verteidigung Leningrads und den Versuchen, die Bevölkerung über den Ladogasee mit Nahrung zu versorgen.

Hilfskonvois kommen schon lange nicht mehr durch

Seit dem September 2012 ist Aleppo umkämpft, längst eingeschlossen von kämpfenden Truppen, ununterbrochen bombardiert von Flugzeugen verschiedener Kriegsparteien. Für 300 000 Menschen gibt es noch 35 Ärzte, wie viele der einstmals 2,5 Millionen Einwohner Aleppos überhaupt noch in der Stadt sind - niemand weiß es, denn Hilfskonvois kommen schon lange nicht mehr durch.

Seit vier Tagen gibt es nach Angaben der Weltgesundheitsbehörde Unicef kein fließendes Wasser mehr. Nur noch 13 von einstmals 28 Gesundheitsstützpunkten – von Krankenhäusern redet niemand mehr – sind noch funktionsfähig, sie werden gezielt bombardiert. Hilfsorganisationen sagen, der direkte Angriff auf Sanitätsstationen sei Teil der Kriegstaktik aller Konfliktparteien geworden.

Der Name der noch vor einem Jahrzehnt so schönen und so reichen Stadt Aleppo taucht etwa 1900 vor Christus das erste Mal aus dem Dunkel der Geschichte auf. Von hier aus herrschten Könige über ein großes und mächtiges Reich, das sich den Euphrat entlang zieht. Aleppo gehört zu den am längsten bewohnten Städten der Welt. Der mehr als 1000 Jahre alte Basar, Teil des Welt-Kulturerbes, wurde gleich zu Beginn der Belagerung zerstört.

Was in Aleppo tagtäglich geschieht, sind Kriegsverbrechen, nicht anders als die, die die Wehrmacht vor einem Dreivierteljahrhundert an der Bevölkerung Leningrads verübte. Gerade haben die Vereinten Nationen aus ihrem prächtigen Sitz im Glaspalast am East River wieder eine 48-stündige Waffenruhe für Aleppo gefordert, um Raum für humanitäre Hilfsleistungen zu schaffen.

Die Schmutzarbeit wird anderen überlassen

Aber die Vereinten Nationen sind ja kein abstraktes Gebilde, sie werden von ganz realen Staaten, von Mächten getragen. Das höchste Gremium der UN, der Weltsicherheitsrat, hat fünf ständige Mitglieder. Vier von ihnen, die USA, Russland, Frankreich und England, sind am Krieg in Syrien unmittelbar beteiligt.

Ihre Kampfflugzeuge bombardieren Städte und Stellungen des IS, des so genannten Islamischen Staates, der eine der Kriegsparteien ist. Auch die Europäische Union – deren Mitglieder Frankreich und England sind – unterstützen den UN-Appell.

Das Ausmaß an Heuchelei ist kaum mehr zu überbieten, wenn die Diplomaten jener Militärmächte, die das Land in Schutt und Asche legen, in New York eine Waffenruhe einfordern. Natürlich unterstützen die vier UN-Garantiemächte, die auf syrischem Boden Krieg führen, verschiedene Parteien.

Russland will die Position des Diktators Assad festigen und damit den eigenen Marinestützpunkt am Mittelmeer sichern. England, Frankreich und die USA hingegen möchten Assad entmachten. Keine dieser vier Mächte aber würde das künftige Schicksal Assads als absolutes Ziel definieren, so rührselig ist niemand. Die Schmutzarbeit am Boden, das Sterben in den Trümmern, überlassen sie ohnedies Helfershelfern aus Saudi-Arabien oder dem Iran.

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