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Die Angst vor dem Volk wächst, denn die Wut bleibt - hier eine Demonstration in Iraks Hauptstadt Bagdag gegen Korruption und Misswirtschaft im August 2015.

© Haidar Mohammed Ali/ AFP

"Civic Charter" für politische Teilhabe: Der Demokratie geht die Puste aus - weltweit

Die "Civic Charter" formuliert grundlegende Menschen- und Beteiligungsrechte. Auf den ersten Blick scheinen sie banal, aber nur neun Staaten erfüllen sie.

Uganda ist ein Rechtsstaat eigenen Typs. "Es gibt für alles Gesetze, von dem, was Sie in Ihrem Schlafzimmer tun, bis zum Cyberspace", erzählt Arthur Larok. Der ugandische Bürgerrechtsaktivist kennt auch die Folgen dieses drakonischen "Lawings" für die Bürgerinnen und Bürger des Landes und vor allem für Basispolitik, wie er und seine Organisation "Action Aid Uganda" sie machen: "Wir stehen mit allem, was wir tun, gegen die Gesetze." Und zwar gegen Gesetze, die es gar nicht geben dürfte, denn sie sind verfassungswidrig, sagt Larok.

In der Realität seines Landes machen sie nicht nur die eine oder andere Veranstaltung unmöglich, sie schränken insgesamt den Platz für andere Politik als die von oben verordnete ein: Sie nehmen mehr und mehr jeder demokratischen Lebensäußerung, der Zivilgesellschaft insgesamt den Platz.

"Raum zu verlieren, heißt aber, dass wir unsere Freiheit verlieren", sagt die indonesische Frauenrechtlerin und Technikexpertin Dhyta Caturani. "Und letzten Endes unser Leben." In ihrer Heimat wurden erst am Tag zuvor wieder sieben Menschen bei Protesten angeschossen, einer starb. "Man möchte uns sogar das Recht verweigern, uns etwas anderes als die herrschenden Verhältnisse auch nur vorzustellen", sagt Larok.

US-Süden ohne Gewerkschaften

Larok, Caturani und viele Mitstreiterinnen in aller Welt setzen deshalb auf die "Civic Charter", eine Charta für politische Teilhabe, die sie erarbeitet haben und die Regierungen verpflichten soll, grundlegende Menschen- und Beteiligungsrechte nicht nur in Sonntagsreden zu versprechen, sondern sie auch Wirklichkeit werden zu lassen. Die Charta wurde am Donnerstag in Berlin in den Räumen der grünnahen Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellt.

Die zehn knappen Punkte der Erklärung, die bequem auf eine Din-A-4-Seite passen, lesen sich auf den ersten Blick banal: Sie fordern Freiheit der Rede, der Information, der Versammlung, die Freiheit, sich zu Gewerkschaften oder Vereinen zusammenzuschließen, und sie verlangt von Regierungen und Unternehmen, dass sie Rechenschaft ablegen für das, was sie tun und lassen.

Doch diese teils jahrhundertealten Rechte, die die Vereinten Nationen vor bald 70 Jahren in ihre Menschenrechtserklärung schrieben, sind weltweit unter massivem Druck, sagt Maina Kiai, der UN-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. "Das ist kein Problem einzelner Staaten."

Und schon gar keins der sogenannten Dritten Welt. Kiai nennt Beispiele: "Spanien hat inzwischen das restriktivste Versammlungsrecht der Welt. In Großbritannien dürfen NGOs sechs Monate vor einer Wahl kein Lobbying mehr unter Parlamentariern machen, und sie haben dort die sehr gefährliche Tradition verdeckter Ermittler, die sich über Jahre in legale Organisationen einschleichen, teils Kinder mit Aktivistinnen haben. Das heißt, dass dort keine mehr keinem traut und ihre Arbeit lahmgelegt wird."

In Wilhelm Tells Mutterland der freien Rede und Versammlung, der Schweiz, ist man inzwischen rasch ruiniert, wenn man einem Polizeibeamten während einer Demonstration nicht sofort gehorcht: Das kostet 100.000 Franken. In den US-Bundesstaaten Tennessee und Mississippi stehen, sagt Kiai, die weltweit einzigen Fabriken, in denen es keine Gewerkschaft gibt.

Und auf Demonstrationen gegen den Tod schwarzer US-Bürger durch Polizeikugeln wird ganz legal geprügelt. Der Unterschied zu Uganda, ergänzt Arthur Larok, ist, dass dort die Regierung in Washington gegen Übergriffe einschreiten kann, die die Gesetze einzelner Bundesstaaten erlauben - wenn denn der Druck aus der Bevölkerung stark genug werde.

Die Angst der Regierungen vor der Gesellschaft

Aber ist die Unterdrückung wirklich neu, gingen nicht auch früher diktatorische Regimes und auch gewählte Regierungen brutal gegen Kritik und außerparlamentarische Opposition in ihren Gesellschaften vor? Ja, sagt Kiai, aber heute sei der Abstand zwischen den Erwartungen der Menschen und dieser Realität riesig geworden: Der Fall der Mauer, die Freiheitsversprechen der Globalisierung und der Vernetzung, die "edlen Millenniumsziele der Vereinten Nationen", da seien Hoffnungen gewachsen.

Und die vielen uneingelösten Versprechen münden, ergänzt Barbara Unmüßig von der Böll-Stiftung, in den letzten Jahren in immer mehr Protesten weltweit, gegen Umweltzerstörung, Landraub und Unterdrückung. Gleichzeitig, so Kiai gebe es auf der Seite der Mächtigen, "eine Menge Angst", die immer ausgefeiltere Methoden der Überwachung und des Drucks befeure. Vor allem der Arabische Frühling 2011 sei auf der anderen Seite der Barrikaden ein Schock gewesen.

Nur neun Staaten erfüllen alle Bürgerrechte

Dhyta Caturani und Arthur Larok verweisen auch auf systematische Gründe. In postkolonialen Staaten wie seiner Heimat Uganda "wird man geradezu planmäßig zum Diktator", sagte Larok. Diese Staaten seien als Machtinstrumente geplant worden, Abhilfe sei nur möglich, wenn das zugrundeliegende Strickmuster geändert würde.

Caturani verweist auf die schwindende Macht des Politischen - nicht nur in ihrem Indonesien: "Wir hatten dreißig Jahre lang die Suharto-Diktatur und setzten große Hoffnungen auf den neugewählten Präsidenten, der sogar aus der Bürgerrechtsbewegung kam. Inzwischen haben wir das Gefühl, geradewegs zurück in diese Zeit gezerrt zu werden."

56 öffentliche Veranstaltungen seien allein 2016 schon verboten worden, neben Kundgebungen auch Festivals, und Indonesien habe das "ausgefeilteste Überwachungssystem aller Staaten der Welt" - bereitgestellt von einer IT-Firma, die in deutschem und britischen Besitz ist.

Wenn gewählte Repräsentanten keine Macht mehr haben, im Sinne ihrer Wählerinnen und Wähler zu handeln, liegt das daran, dass sie sie freiwillig aufgegeben haben, sagen die Bürgerrechtler. Fasziniert von den wirtschaftlichen Möglichkeiten einer vernetzten Welt, träten sie eigenen Spielraum an Unternehmen ab, die aber niemandem verantwortlich seien.

Kiai: "Der Staat schwächt sich selbst." Die Politiker stünden von dieser Seite unter Druck und "geben ihn an die Gesellschaft weiter". Während deren Raum schrumpft, wächst der des Business ins Unermessliche: "Es ist wie der Unterschied zwischen Tag und Nacht."

Um sich dem rasanten Schrumpfen demokratischer Räume entgegenzustemmen, setzen die Gäste der Böll-Stiftung auf ihre eigene Globalisierung. Die Charta gebe die Möglichkeit, "von der lokalen auf die globale Ebene zu kommen", sagt Arthur Larok. In Uganda versuchen sie gerade, die Polizei auf diese Prinzipien zu verpflichten. Dass Regierungen ihnen helfen könnten und wollten, glaubt hier niemand. Eine Koalition der Willigen wäre ein "sehr kleines Grüppchen", sagt Barbara Unmüßig: Gerade einmal neun Länder der Erde - Andorra, Belgien, Zypern, Dänemark, Finnland, Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Schweden - genügten den Prinzipien der "Civic Charter".

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