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Zum 100. Weltfrauentag: Das berechenbare Wesen

Alle rufen nach Frauen in den Chefetagen. Wer aber redet von der Durchschnittsfrau? Hier ist sie: 1,66 Meter groß, 44,6 Jahre alt. Sie verbraucht 2,7 Kilo Lippenstift im Leben und bekommt 1,36 Kinder. Ein Porträt des statistischen deutschen Mittelmaßes.

Nicht viel war gewiss für diesen Tag, mit Ausnahme der Tatsache, dass ihre Füße wieder 40,5 Tonnen Gewicht zu tragen hatten. Es war nicht das Gewicht ihrer unternehmerisch-wirtschaftlichen Verantwortung, sondern es war ganz und gar ihr eigenes Körpergewicht, an dem sie schwer genug trug: 6000 Schritte am Tag mal 67,5 Kilogramm.

Aber wohin führten sie diese Schritte?

Sie lebte mit Größe 39 nicht auf großem Fuße. Sie lebte zur Miete. Glaubte an einen Schutzengel. Sie war christlich getauft. Und vor Mitternacht im Bett. Neben ihrem Ausbildungsberuf hatte sie einen Haufen existenzieller Probleme. Weshalb sie heute ihre 35-minütige Mittagspause nutzen würde, um ihren Analysten zu sehen: Nur er konnte ihr da heraushelfen, ihr sagen, wer sie wirklich war.

Wie die Menschen aus Fleisch und Blut ihren Analytiker haben, um sie zum Kern ihres Wesens zu führen, brauchte sie ihren Analysten. Er hatte Zugriff auf die Statistiken und Daten, die ihre Substanz ausmachten. Sie war die Durchschnittsfrau von 44,6 Jahren. Alle anderen Frauen verglichen sich mit ihr. Leider waren die meisten enttäuscht, wenn sie ihr ähnelten. Sie selbst war ja auch enttäuscht.

Da verteilten sich 67,5 Kilogramm Gewicht auf 1,66 Meter Größe, und zwar derart, dass ihre Silhouette an der Brust 98,7 Zentimeter aufwies, 84,9 in der Taille und 102,9 auf der Hüfte. Da konnte man prima Größe 42/44 drüberziehen. Sie war eine Frau, und das hatte Folgen. Sollte sie mal erzählen? 76 Tage des Lebens in der Handtasche kramen, zwei Jahre in der Badewanne liegen, fünfeinhalb Jahre fernsehen. Sechs Wochen Vorspiel, 16 Stunden Orgasmus.

Sie würde 2,7 Kilo Lippenstift im Leben verbrauchen, sie hat vier Lippenstifte, vier Nagellacke, drei Parfums im Bad stehen, sie benutzt Deo. Neuneinhalb Wochen lässt sie zwischen zwei Friseur-Besuchen vergehen.

Von der gläsernen Decke an der Schwelle zu Führungspositionen hatte die Durchschnittsfrau nur reden hören, sie war nicht im Entferntesten in ihre Nähe geraten. Wie auch, sie hatte ja kein Studium.

In keinem einzigen Bereich war sie eigen, herausragend, apart. Kein Wunder: Man erlaubte es ihr nicht. Sie war die Durchschnittsfrau, Erika Mustermann alias Sabine Müller, ein Zombie der Demoskopen! Sie würde mit 82,7 Jahren im Krankenhaus an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben und zugleich würde sie nicht sterben, denn solange es da draußen jemanden gab, der die vier Grundrechenarten beherrschte, würde es weiter die berechenbare Frau geben. Ihr fehlte die Anerkennung. Sie war hier, um ihr Unglück darüber loszuwerden, dass ihr ganzes Leben im Mittelmaß gefangen war.

Der Analyst war hier, um ihr zu erklären, dass doch gerade das Mittelmaß sich dauernd wandelte.

Wenn man unter Leben Entwicklung verstand, dann war ihr Leben lebendiger als das jeder einzelnen Frau im Land. Er erklärte ihr, dass sie zwar die durchschnittliche, aber deshalb auch ganz und gar ungewöhnliche, wenn nicht gar die unmögliche Frau war. Die Frau sollte man ihm erstmal zeigen, die es schaffte, 1,36 Kinder zu gebären! Dass es eine wie sie noch mal geben würde war noch unwahrscheinlicher als eine Frau im Vorstand eines Dax-Unternehmens.

Sie wurde zum Beispiel immer älter, aber sie alterte langsamer als alle anderen Frauen, die jedes Jahr dazu verdammt waren, genau ein Jahr zu altern. Theoretisch, gab er zu Bedenken, wäre es sogar möglich, sollte der Sex der Deutschen wieder mehr Konsequenzen zeigen, dass die Durchschnittsfrau mit den Jahren sogar wieder jünger wird! Sie könne damit das Sprunghafte im Weiblichen quasi perfekt verkörpern!

Sie wusste: 200 000 Mal musste man die Stirn runzeln, bis eine Falte entsteht. Denn das war ja das Problem. Sie hatte sich nicht selbst in der Hand. Ihr Leben drohte, sich an den Rändern aufzulösen. Sie war ungeheuer konkret und zugleich unfassbar. Trotz aller Einzigartigkeit bloß ein Derivat.

„Meine Eigenschaften entstehen erst in den Fragen der Betrachter. Ich bin die Frau im Spiegel der Interessen anderer“, sagte sie anklagend.

Und da war was dran. So beklemmend es war, man konnte mit ihrer Schwäche Geschäfte machen. Natürlich interessierten sich deshalb alle für die Schwächen. 52 Prozent der Konsumenten sind weiblich, 80 Prozent aller Einkäufe werden von Frauen getätigt. 70 Prozent dieser Käufe waren Spontankäufe, das rechtfertigte die eine oder andere Studie. Das sah sie ein.

Deshalb weiß jeder: Sie hat Cellulite. Sie trägt schwarze Unterwäsche, jede zehnte Jeans, die sie anprobiert, kauft sie. Sie nimmt jeweils zehn Teile mit in die Umkleidekabine. Viermal im Monat geht sie „shoppen“. 21 000 Klamotten wird sie in ihrem Leben anprobieren, aber nur 10 500 kaufen.

Der Analyst gab zu bedenken: Wer stellte ihr denn die Fragen? Unternehmen, die etwas verkaufen wollten, Forscher, die was beweisen wollten. Parteien, die ihre Stimme wollten. Versandhäuser, die mit den neuesten Größentabellen ihre Retouren minimieren wollen.

Man lastete die Beschränktheit der Fragen ihr selbst an, beschwerte sie sich. Es waren Fragen über Konsum-Vorlieben, körperliche Schwächen. All die unentdeckten Seiten! Nie hat sie einer gefragt, welche Gedichte sie gerne liest! Stattdessen verfolgte man ihren Weg von der Wespe zur Wuchtbrumme. 1983 war es noch: 94,7 – 78,7 – 98,8. Heute war die Hüfte auf  102,9.

Es war jetzt Aufgabe ihres Analysten, sie daran zu erinnern, dass dieses gefühlt Irrlichternde nur der kurzen Belichtungszeit einzelner Fragesteller und ihrer Studien geschuldet war. Die Durchschnittsfrau, erklärte er, steht nicht nur im Licht der Öffentlichkeit, sie steht im Blitzlicht.

Richtig. Sie wurde jetzt fuchsig. „Und jeder Blitz kommt aus einer anderen Richtung. Das führt zu einer Menge schräger Momentaufnahmen.“ Mindestens einmal im Leben würde sie eine Blasenentzündung haben, „darauf warte ich ja noch“. Sie war stolz, eine Deutsche zu sein. Sie fand es nicht richtig, Kinder zu schlagen. Und damit fingen die Indiskretionen ja erst an.

Wenn sie darüber reden wollte ...?

Sie fühlte sich schutzlos, ertappt. Alle bildeten sich ein, bis in die intimsten Einzelheiten über ihre Vorlieben Bescheid zu wissen. Immer wieder landete sie damit auf dem Cover von Frauenmagazinen: Stellungen, Häufigkeit, Vortäuschen oder nicht. Sie persönlich hielt die meisten Auskünfte für glatt gelogen.

Allein diese Behauptung, sie würde häufiger fremd gehen als er. Und wenn es so wäre, würde sie es jedenfalls nicht zugeben wie die anderen 38,9 Prozent ihrer Geschlechtsgenossinnen. Einen Seitensprung würde sie ihrem Mann nicht verzeihen. Etwas mehr Sex mit ihm wäre ihr auch recht, aber wenn sie länger drüber nachdachte, war er keine Bedingung für ihr weiteres Zusammensein. Wenn er nur ehrlich wäre, treu und zärtlich, dann bestünde sie nicht auf „gut im Bett“.

Was sollten diese Fragen? War sie in eine Art gesellschaftlichen Nacktscanner geraten?

Sie war auch unruhig. Die Tatsache, dass der Durchschnittsmann 10,2 Frauen im Leben hatte, machte ihr Sorgen. Kam er mit ihr schon auf seine Zahl? Hatte er mit ihr sein Soll erfüllt?

Diese Fragen sagen mehr über die seltsame Fixierung der Fragesteller als über sie, beruhigte er.

Sie hörte nicht zu und redete einfach weiter. Sollte sie stolz darauf sein, dass sie schneller fertig war im Bad als der Mann? Was sagte das überhaupt aus?

Er warf ein, dass eine Zahl an sich gar nichts ist, der Zusammenhang aber alles. Erst durch Verhältnisse entsteht Gesellschaft. Die Tatsache, dass Frauen 64 Mal im Jahr weinen, wirkt ja erst dann häufig, wenn man weiß, dass Männer wie er zum Beispiel dies nur 17 Mal im Jahr geschehen lassen. Er lachte. Sie wusste: Männer lachen gerne über andere. Er setzte sein Lachen ein, um zu konkurrieren.

Das war sie also, die kleine Gesellschaft, in der sie sich gerade befand. Sie und er. Sie musterten einander. Ihr Gegenüber aß 166 Gramm mehr Lebensmittel am Tag als sie und mit 103 Gramm doppelt so viel Fleisch. Sie hatte eine geringere Muskel- und Körperfettmasse. Beide saßen unbeweglich da und wussten: Sie verbrauchte 55,8 Kalorien in dieser Stunde ihres Lebens, er verbrauchte in derselben Stunde 72,5.

Wenn sie jetzt laut loslachte, dann über die Situation. Das Ziel ihres Lachens war es, Bindung zu schaffen. Sie lachte acht Minuten pro Tag, doppelt so viel wie Männer. Sie schweifte in Gedanken ab. Sie lebte in diesem Land, dessen Grundgesetz seit über 60 Jahren behauptete, dass Männer und Frauen gleichberechtigt seien. Sie musste schon wieder lachen. Es half, mehr zu lachen, wenn man weniger verdiente. 23 Prozent, um genau zu sein. Vielleicht hätte sie nicht einen so schlecht bezahlten Beruf wählen sollen. Schließlich musste sie auch für die Rentenversicherung wegen ihrer fünf Jahre höheren Lebenserwartung mehr zahlen, und dann waren da noch die 279 Paar Schuhe in ihrem Leben … Als es 2010 eng wurde, hat sie einfach ihre Altersvorsorge reduziert: um 18 Prozent auf 165 Euro im Monat. Sie brauchte dringend einen besser bezahlten Job. Und sie wusste, sie konnte ihn kriegen. Denn immerhin sah sie nur durchschnittlich aus. Schönheit, hatte sie gelesen, sei bei Bewerbungen von Nachteil.

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