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Papst Franzikus, ein prominenter Botschafter der Barmherzigkeit.

© Angelo Carconi/dpa

Der Papst und seine Reformen: Was treibt Franziskus an?

Franziskus macht fast alles anders als seine Vorgänger – auch besser? Manche meinen, der Hype um den neuen Papst sei schon vorüber. Sie irren.

Navid Kermani beginnt sein neuestes Buch mit den Worten „Der katholische Freund schließt nicht aus, dass ...“ Dann meditiert er voll „ungläubigem Staunen“ fast dreihundert Seiten lang über die christliche Bilderwelt. Er, der Muslim, erschließt den Christen mit Hingabe eine Welt, die ihnen selbst fremd geworden ist oder deren Reichtum sie nicht wahrnehmen, weil sie als Gewohnheitsseher – „ach, schon wieder dieses Madonnenmotiv da“ – alles längst zu kennen glauben.

Der katholische Freund sagt zum Thema dieser Seite hier, in Deutschland sei der „Hype um Papst Franziskus schon wieder vorbei“, der „Zauber verflogen“. Und er, der katholische Freund aus Deutschland, hinterlässt damit ungläubiges Staunen bei einem, der in Rom wohnt, der diesen Papst aus der täglichen Nähe mitbekommt und seinerseits meint, die „Ära Franziskus“, die habe doch eben erst begonnen. Da muss also, nördlich der Alpen, einiges nicht vermittelt worden sein. Da sind wohl Welten verschlossen geblieben. Oder es haben sich die Gewohnheitsseher durchgesetzt mit ihrem immer gleichen Blick: „Ach, aus dem Vatikan“, so bloggen selbst deutsche Theologieprofessoren, die es besser wissen müssten, kommt doch immer nur „die alte Leier“, nur „Reformgerede, aber keine Taten“. Abgehakt, Franziskus. Kein Stoff für dreihundert Seiten. Der Nächste, bitte.

Was müsste denn passieren, welche Schlagzeilen müsste Franziskus liefern, welchen Zauber veranstalten, damit alle zufrieden sind? Und wie würde das Ergebnis gemessen? In folgenlosen Beliebtheitskurven der allmonatlichen „Sonntagsfrage“? In der Zahl der Gottesdienstbesucher? Aber wer will denn, gerade unter den „Aufgeklärten“, eine frömmere Gesellschaft in Deutschland? Ist eine Kirche dann gut, wenn viele Leute zu ihr kommen, oder nicht eher dann, wenn sie zu den Menschen geht? Aber das ist schon eine Fragestellung à la Franziskus.

Ein Traditionsbruch

Es stimmt ja bedenklich, dass 2014 so viele deutsche Katholiken aus ihrer Kirche ausgetreten sind wie noch nie, noch einmal zwanzig Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das aber war genau die Periode des „Franziskus-Hypes“, die Hoch-Zeit der Hoffnung auf eine andere Kirche. Das heißt: Die Gründe für die radikale Abwendung vieler „westlicher“ Katholiken – in Afrika und Asien weist der Trend exakt in die andere Richtung – liegen also tiefer als nur im Unbehagen an einer bestimmten Kirchenform oder einem bestimmten Papst. Wenn etwa, wie es der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz als besonders aussagekräftig herausstreicht, die Zahl katholischer Begräbnisse in Deutschland kontinuierlich abnimmt, dann „glauben offenbar immer weniger Menschen daran, dass der christliche Glaube und die Kirche eine Heilsperspektive nach dem Tod eröffnen“. Ein solcher Traditionsabbruch, im größten Ernstfall des Lebens auch noch, hat nicht seinesgleichen in der Geschichte. Selbst wenn Franziskus von heute auf morgen den Zölibat abschaffte, um nur eine der „klassisch deutschen“ Reformforderungen zu nennen: Der Glaube an eine Auferstehung würde nicht einfach wiederkehren. Und was ist der Glaube an die Auferstehung, wenn nicht der Grundpfeiler der christlichen Religion?

Die Reformen, die Franziskus losgetreten hat, viel stärker, als es das Schlagzeilenformat heutiger Internet-Nachrichten vermuten lässt, greifen tiefer. 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nimmt Franziskus dessen „aggiornamento“-Gedanken neu auf: Die Kirche muss auf die Höhe jener Anforderungen gebracht werden, welche die Zeit heute stellt, weg von der Dauerbeschäftigung mit sich selber und hinaus zu den Menschen, die nicht mehr hereinkommen wollen. Das Konzil damals mit seinen 2300 Bischöfen hat vier Jahre gedauert; Franziskus ist zweieinhalb Jahre im Amt, und er macht alles alleine. Vorerst. Denn auch, was gemeinschaftliche, „synodale“ Leitungsstrukturen betrifft, hat er den Keim zu einer veränderten Kirche schon gepflanzt. Da ist gar nichts vorbei, da wächst erst etwas. Jetzt braucht Franziskus allerdings Leute, die gießen.

Der Papst, der sich nach seiner Wahl als „vom Ende der Welt kommend“ vorgestellt hat, hat sich dem Alten Kontinent über Lampedusa genähert, der Insel der Hoffnungen und der Toten. Bevor er nach Straßburg reiste, besuchte Franziskus Albanien. Den Gründonnerstag, an dem Jesus nach kirchlicher Lehre das heiligste Gedenken eingesetzt hat, das die Christenheit besitzt, das Abendmahl, den feiert Franziskus nicht in der weihraucherfüllten Kirchenzentrale; er geht dafür in die Gefängnisse. Das „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“ hat er im Bürgerkrieg von Zentralafrika eingeleitet. Die Zentren der weltlichen und kirchlichen Macht, sie interessieren ihn schon auch – aber nicht aus ihrer eigener Perspektive heraus, sondern von außen betrachtet und hinterfragt. Wer in all dem nur „schöne Symbolhandlungen“ sieht, blendet den verpflichtenden Charakter dieses Vorbilds für die Kirche aus.

Revolutionen, sprachlich gut verpackt

Gleichwohl sind es Zeichen, die schnell wirken, die eingängig sind; der Papst weiß, dass das Publikum Nachrichten will, während die Reformen dahinter Zeit brauchen. Franziskus spielt auf vielen Ebenen gleichzeitig. Da sind die „kleinen“ Predigten in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses Morgen für Morgen; da ist die Reform der Kurienbürokratie; da sind die großen Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ und „Laudato si“ mit ihren Frontalattacken auf ein weltzerstörendes Wirtschaftssystem ebenso wie mit einer fundamentalen Erneuerung kirchlicher Seelsorge. Diese zwei Programmschriften haben einen einzigen Fehler: Sie sind zu lang, um im heutigen globalen Stimmenwirrwarr überhaupt gelesen und vor allem studiert zu werden.

Die heute amtierenden Kardinäle und Bischöfe sind alle in der Zeit und im Geist von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ernannt worden. Franziskus baut um. Plötzlich bekommt das winzige Myanmar einen Sitz im Senat der Kirche, und mit den „Straßenpriestern“, die dieser Papst – in Umgehung „verdienter“ Monsignori – zu Bischöfen in Italien macht, bringt er die Hierarchie dermaßen gegen sich auf, dass ihm jüngst der Erzbischof von Ferrara sogar den Tod wünschte: „Möge die Madonna mit Bergoglio dasselbe Wunder vollbringen wie mit dem anderen“, soll Luigi Negri laut ausgerufen – und damit auf das Schicksal des nach 33 Amtstagen gestorbenen Johannes Paul I. angespielt haben. Negri hat entsprechende Zeitungsberichte nicht dementiert.

Und dann, vor allem, die Familiensynode im Oktober. Sicher, wer nur „auf Stellen“ liest, wird in ihrem Schlussdokument nichts davon finden, dass Pille und Kondom plötzlich kirchenamtlich erlaubt wären oder wiederverheiratete Geschiedene beichten und kommunizieren dürften. Die wirklichen Revolutionen sind sprachlich gut verpackt. Allzu lange sind sie auch deshalb nicht durchgedrungen, weil das Papier erst mit mehrwöchiger Verspätung übersetzt und bis dahin, von den Gewohnheitssehern, durchaus schief kommentiert worden ist.

Türöffner: Der Papst eröffnet das "Heilige Jahr".
Türöffner: Der Papst eröffnet das "Heilige Jahr".

© Maurizia Brambatti/dpa

Schon das Synodendokument, als „Vorschläge an den Papst“ gemeint, nimmt Franziskus’ neuen Seelsorgeansatz voll auf: weg vom Vorschreiben und (Ver-)Urteilen hin zu einer einfühlsamen Begleitung der Menschen. Das schafft viel freien Raum für alle – nicht zuletzt für den Papst: Sein Lehrschreiben, das er am 19. März nächsten Jahres vorlegen will, wird ein Meilenstein in katholischer Familienlehre und Ehemoral werden – und das bei einem Thema, über das dreißig Jahre lang in der katholischen Kirche überhaupt nicht diskutiert werden durfte. Jahrhundertelang galt: „Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, Schluss mit der Diskussion.“ Unter Franziskus gilt: „Roma locuta, causa aperta – Rom spricht, der Fall ist offen.“

Zu reden über diese Themen haben sich nicht einmal die deutschen Bischöfe unter sich getraut. Einer von ihnen gibt freimütig zu: So etwas wie die – gerade bei jungen Gläubigen stark angekommene – Fragebogen-Aktion, mit der Franziskus weltweit das Verhältnis der Katholiken zur kirchlichen Lehre klären wollte, „hätten wir unter uns nie hinbekommen; da brauchte es den Befreiungsschlag von oben“.

Bezeichnend ist auch, dass erst jetzt, nach 47 Jahren, jene „Königsteiner Erklärung“ in ein römisches (Synoden-)Papier vordringen durfte, mit der die deutschen Bischöfe 1968 auf die Enzyklika „Humanae Vitae“ reagierten: Nicht die leidige Methodenfrage bei der Empfängnisverhütung, nicht die Vorschriften irgendeines immer weniger einsichtigen „Naturrechts“ stehen darin im Mittelpunkt, sondern die auf das Beste des anderen bezogene, die verantwortete, also eigenständig getroffene Gewissensentscheidung der Ehepartner.

Die dezentrale Kirche

Klar, die Quelle dieses „neuen“ Paragrafen wird im Synodenpapier nicht genannt; womöglich wäre die Passage dann bei der Schlussabstimmung durchgefallen. Klar, die Wende – ein Treppenwitz der Kirchengeschichte – kommt viel zu spät; die Lebenswirklichkeit selbst kirchentreuester Katholiken ist ihr lange voraus. Aber nun ist die Wende festgeschrieben. Und mit ihr wird das Gewissen als letzte Autorität der persönlichen Entscheidungsfindung rehabilitiert, nach einer Periode, in welcher „der Vatikan“ einen allein disziplinarischen Gehorsam zum Gradmesser von Glauben gemacht hat: eine fatale Verquickung verschiedener Ebenen.

Der nächste Schritt steht auch schon bevor. Er könnte zu noch weit drastischeren Veränderungen führen als alles Bisherige: Der Papst lässt derzeit eine Synode über die „heilsame Dezentralisierung“ der katholischen Kirche vorbereiten. Fünfzig Jahre nach dem Rom-zentrierten Zweiten Vatikanischen Konzil soll das „aggiornamento“ heute der Pluralisierung der Welt Rechnung tragen – auch der Pluralität der katholischen Kirche, in welcher die Kontinente, damals weithin „Missionsgebiete“, viel stärker an Eigenleben, Selbstbewusstsein und Stimme gewonnen haben. Es ist das heißeste Thema, das der Papst anpacken kann; auch reformfreudige Bischöfe haben Angst vor den Folgen. Im Prinzip geht es um die Frage, wie viel und wie weit Rom – auch in Lehrfragen – zentral entscheidet und wie viel Gestaltungsmacht die Bischofskonferenzen einzelner Kontinente, einzelner Staaten oder gar Bundesländer bekommen sollen.

An einem Reizthema entlanggefragt: Darf es sein, dass Europa „Ja“ sagt zu homosexuellen Partnerschaften und das katholische Afrika bei seinem strikten „Nein“ bleibt? Kann dann nicht Afrika den Europäern einen Verrat am Glauben vorwerfen und Europa den Afrikanern eine Verweigerung der Menschenrechte? Und wie hält dann alles als „katholische, all-umfassende“ Kirche zusammen?

Wird der Papst als einziger Führer einer Weltkirche und als „Garant der Einheit“ dann nicht zu einer reinen Symbolfigur, die alles treiben lassen muss, während den einzelnen Bischöfen, denen der römische Zentralismus bisher nicht nur Last, sondern auch Entlastung von allzu täglichen Konflikten ist, unter der neuen Verantwortung zusammenbrechen?

Was treibt den Papst? Die Kirche dahin zu bringen, wo die Menschen sind, die wirklichen, nicht die von einer ängstlich hochgehaltenen Lehre als „so-sein-sollende“ vorgestellten. Franziskus will die Hindernisse, die Ärgernisse auch abbauen, mit denen sich diese Kirche dabei selber im Wege steht und ihrem Grundauftrag: die Botschaft der Barmherzigkeit, des Heils, der Auferstehung überall hinzubringen, auch dorthin, wo sie keiner mehr glaubt. Die Botschaft lautet: Die Welt ist nicht verloren. Im Prinzip nicht.

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