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Die Libyer kämpfen um ihre Freiheit.

© Reuters

Ein Land im Porträt: Der Weg Libyens

Stämme und Provinzen sind wichtig in Libyen. Aber Gaddafi hat ein Nationalbewusstsein geweckt. Dennoch rebellierte der Osten schon häufiger. Diesmal mit Erfolg.

WELCHEN WEG HAT LIBYEN HINTER SICH?

Die ehemals griechischen und römischen Provinzen am Südrand des Mittelmeeres wurden ab 647 von Arabern erobert. 1551 verleibte sich das Osmanische Reich die Region ein. Während des Kollapses dieses Reiches eroberte Italien 1911 die Provinz Tripolitania. Doch die beiden anderen Provinzen Cyrenaica und Fezzan, die alle zusammen das heutige Libyen bilden, konnten erst in den 30er Jahren, nach heftigen Kämpfen, unter volle italienische Kontrolle gebracht werden. In den ausgesprochen brutalen Feldzügen sind Hunderttausende Libyer in Kämpfen und in Konzentrationslagern umgekommen. Von 1943 bis 1951 kontrollierten die Briten die beiden am Mittelmeer gelegenen Provinzen: Tripolitania, die sich immer eher in Richtung Tunis und Algier orientiert hat, und Cyrenaica, das eher auf Ägypten ausgerichtet war. Die im Landesinneren gelegene Provinz Fezzan fiel an die Franzosen. 1949 beschloss die UN-Vollversammlung, dass Libyen unabhängig werden sollte, was am 24. Dezember 1951 Wirklichkeit wurde.

WELCHE BESONDERE ROLLE SPIELT DER OSTEN LIBYENS?

Die drei Provinzen – durch große Wüsten lange voneinander getrennt – sind also erst 1951 mit der Unabhängigkeit Libyens ein einheitliches Staatsgebilde geworden. Die östliche Provinz Cyrenaica mit der Hauptstadt Benghasi war traditionell ein Nest des Widerstandes gegen die italienische Kolonialisierung. Der Koranlehrer Omar Muchtar, auf den sich die Demonstranten heute berufen, hat von hier in den 1920er Jahren aus die Revolte gegen die Italiener geleitet. Er mobilisierte den Widerstand des Senussi-Ordens, die den Italienern im Bergland von Cyrenaica heftige Gefechte lieferten. Der Senussi-Orden, eine sufistische Bruderschaft, hatte sich in dieser östlichen Region Lybiens seit dem 19. Jahrhundert ausgebreitet. Ihr Oberhaupt Mohammed Idris al Sanussi (1890–1983) wurde 1918 unter Anerkennung der italienischen Oberhoheit als Regent in der Cyrenaica und 1922 als Emir der Provinz Tripolitanien innerhalb der Kolonie Italienisch-Libyen anerkannt. Nach der Machtergreifung von Mussolini in Italien 1923 wurde Idris ins Exil nach Kairo vertrieben. Der Widerstand der Stämme unter Umar Muchtar wurde bis 1932 niedergeschlagen. Nach der Vertreibung der italienischen Kolonialherrschaft durch britische Truppen während des Zweiten Weltkriegs kehrte Idris 1947 nach Libyen zurück. Zwei Jahre später wurde er Emir der Cyrenaica und 1951 als Idris I. als König des unabhängigen Libyens eingesetzt. Bis 1963 war das Land föderal organisiert mit großer Autonomie für die drei Provinzen. Mit dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Republik durch Oberst Gaddafi wurde der Westen des Landes, die Provinz Tripolitania, aufgewertet. Die Menschen im Osten Libyens kritisierten die wirtschaftliche Vorzugsbehandlung der Tripolitania, wo Gaddafis Stamm ansässig ist. Im Osten dagegen, wo große Erdölvorkommen liegen, ist die Infrastruktur bis heute unterentwickelt. „Gaddafi hat die Leute in Ostlibyen immer als wenig vertrauenswürdig und wenig loyal eingestuft“, sagt der Libyen-Experte Dirk Vandenwalle am Dartmont College in den USA. Regelmäßig hat der Osten des Landes daher den Aufstand gegen Gaddafi geprobt – nun erstmals mit Erfolg.

WIE WICHTIG SIND DIE STÄMME?

Libyen ist wohl neben Jemen das arabische Land, das am meisten durch seine Stämme geprägt wurde. Von den etwa 140 Stämmen haben 30 politische Bedeutung. Ein Verdienst Gaddafis ist es, dass er durch eine administrative Neueinteilung des Landes traditionelle Stammesgrenzen durchbrach und die Entwicklung eines libyschen Nationalbewusstseins vorantrieb. Mit den Einkünften aus dem Erdöl, das ab 1963 exportiert wurde, konnte die Infrastruktur ausgebaut werden, welche die Bewohner des riesigen Landes näher zusammenrücken ließ. Die Urbanisierung schritt voran, was traditionell die Macht von Stämmen schwächt. Dennoch ist das Stammesbewusstsein noch immer ausgeprägt und ihnen kommt zumindest moralische Kraft zu. Die Entscheidung beispielsweise der Führer des Warfalla-Stammes, der eine Million Menschen umfasst, sich von Gaddafi abzukehren, war ausschlaggebend für viele Libyer, sich der Revolte anzuschließen. Der Stamm Gaddafis, die Gadafa, sind ein relativ kleiner Stamm, der jedoch Schlüsselpositionen im Staat und in den Sicherheitskräften innehat. Angeblich soll er die Luftwaffe beherrschen, die noch immer afrikanische Söldner einfliegt, um das Regime zu verteidigen.

WAS MACHT GADDAFI SO STARK?

Die Sondereinheiten der Armee, die direkt Gaddafi und seinem Sohn Khamis unterstehen, ebenso wie die loyale Luftwaffe, sind um Tripoli herum stationiert. Sie sind ungleich besser ausgebildet und ausgerüstet als die reguläre Armee, die im Osten des Landes größtenteils zu den Aufständischen übergelaufen ist. Ihr hatte Gaddafi immer misstraut und sie daher schwach gehalten. Daher kann Gaddafi in Tripoli und Umgebung die Stellung noch halten, während der gesamte Osten seine Herrschaft bereits abgeworfen hat. Dieser Zustand könnte noch Tage oder gar Wochen dauern.

GIBT ES EINE OPPOSITION?

Eine nennenswerte säkulare Opposition im Lande gibt es nicht. Einzelne Intellektuelle haben immer wieder gewagt, die Herrschaft Gaddafis zu kritisieren, und sind dafür meist mit Gefängnis bestraft worden. Sie waren für das Regime bisher nicht gefährlich. Im Exil gibt es zahlreiche libysche Oppositionsgruppen, die meist säkular ausgerichtet sind. Die wichtigste ist die „National Front for the Salvation of Libya“ (NFSL), die in London ihren Sitz hat. Daneben gibt es im Land ethnische Minderheiten, die zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen sollen und die diskriminiert wurden. Allerdings waren sie bisher wenig politisiert. Zu ihnen gehören Berber, Tuareg und Tebu.

Die islamistische Bewegung spielt dagegen eine größere Rolle. In den achtziger Jahren haben militante Islamisten erste Anschläge in Libyen verübt. Von 1995 bis 1998 kam es im Osten des Landes regelmäßig zu Guerilla-Aktionen, auf die das Regime mit brutaler Härte reagierte. 1995 gründete sich auch die „Islamic Fighting Group“, die der Terrororganisation Al Qaida nahestand. Nach Ansicht von Experten ist diese Gruppe zerschlagen, aber ein Machtvakuum könnte Libyen zu einem neuen Rückzugsgebiet für nordafrikanische Al-Qaida-Ableger machen. Diese unterstützen die Revolte gegen Gaddafi in Kommuniqués. Die Muslimbrüder, wahrscheinlich die wichtigste islamistische Gruppe im Land, haben der Gewalt jedoch abgeschworen. Wie stark sie in der konservativen, aber auch durch den säkularen Stil Gaddafis geprägten Gesellschaft sind, ist schwer zu sagen. Allerdings deuten Anbiederungen des Regimes darauf hin, dass sie sehr ernst genommen wurden. So hatte Gaddafis Sohn Saif al Islam, der als Nachfolger gehandelt wurde, im Fernsehen stets die Scharia und die in ihr vorgesehenen Strafen verteidigt – um wohl in islamistischen Milieus Rückhalt zu sichern.

WIE LÄUFT DIE EVAKUIERUNG?

In dem reichen Erdölstaat Libyen haben vor Ausbruch der Gewalt hunderttausende Ausländer gearbeitet, die jetzt teilweise in Sicherheit gebracht werden. Zwei deutsche Transall-Flugzeuge haben am Samstag 133 ausländische Staatsangehörige aus Libyen ausgeflogen. Das teilte das Auswärtige Amt am Abend mit. Wahrscheinlich flogen die Maschinen von einem Nato-Stützpunkt auf der griechischen Insel Kreta aus in einen Ort im Landesinneren, in dem sich Ausländer gesammelt hatten. An Bord waren laut Außenamt auch dutzende Deutsche und EU-Bürger. Noch immer sollen sich etwa 100 Deutsche im Land befinden. Auf 1,5 Millionen wurde die Zahl der Ägypter geschätzt, die im Nachbarland Arbeit gefunden hatten. Sie fliehen auf dem Landweg in ihre Heimat. Auch viele der 30 000 Tunesier haben auf dem Landweg die Reise in die Heimat angetreten. Die chinesische Regierung hat nach eigenen Angaben fast 16 000 in Libyen arbeitende Staatsbürger in Sicherheit gebracht. Insgesamt sind mehr als 30 000 Chinesen in Libyen tätig. Auch Indien bemüht sich derzeit, zahlreiche seiner 18 000 in Libyen arbeitenden Staatsangehörigen in Sicherheit zu bringen. Die schätzungsweise 60 000 Menschen aus Bangladesch, meist einfache Arbeiter, müssen dagegen auf eigene Faust versuchen, das Land zu verlassen.

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