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Überkreuz. Der Bundespräsident als Pappkamerad gehörte zur Dekoration der 300-Jahre-Friedrich-Feier auf dem Berliner Gendarmenmarkt.

© AFP

Die Affäre des Bundespräsidenten: Wulffs Parallelwelt

Bundespräsident Wulff absolviert offizielle Termine und wähnt alles in Ordnung. Ist das so? Das Volk isst „Wulff-Brötchen“, für die es nicht zahlt, und Politiker wollen keine „Wulffer“ sein.

Von Antje Sirleschtov

Es ist Freitagmorgen, und der Tag beginnt mit einer Ungeheuerlichkeit: Der Nachrichtendienst dapd meldet: „Bundespräsident Wulff darf Lügner genannt werden.“ Eine Woche zuvor hatte der niedersächsische Grünen-Abgeordnete Stefan Wenzel den ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten und heutigen Bundespräsidenten Christian Wulff genauso genannt. Worauf Bürger den Mann wegen Verunglimpfung anzeigten.

Vor 100 Jahren wäre Wenzel ins Verlies geworfen oder wahrscheinlich gleich einen Kopf kürzer gemacht worden. Jetzt herrscht Meinungsfreiheit. Wobei das Vergehen, das Staatsoberhaupt zu beleidigen, auch in diesen Zeiten noch ein paar Jahre hinter Gittern nach sich ziehen kann. Doch die Staatsanwälte in Hannover erkennen im Fall Wulff kein Vergehen. Weshalb man den deutschen Bundespräsidenten nun ganz offiziell einen „Lügner“ nennen darf.

Am selben Freitagmorgen wartet zur gleichen Zeit Norbert Lammert am Haupteingang des Reichstags. In wenigen Minuten werden die Volksvertreter der Opfer des Nationalsozialismus gedenken. Lammert ist der Präsident des Bundestages, er ist der Hausherr. Es ist ein feierlicher Morgen. Der oberste Bundesverfassungsrichter wird erwartet, der Bundesratspräsident. Man wird Zeuge eines Staatsaktes sein.

Um 20 vor neun fährt eine Limousine vor, die Wagentür wird aufgerissen. Norbert Lammert, ein Mann von tadellosen Manieren, geht dem Gast entgegen, reicht ihm die Hand, senkt für einen Augenblick vor dem Gast den Kopf. Vor ihm steht der erste Mann im Staate: der Bundespräsident. Und wie der da steht. Kein Zaudern, kein Schlenkern, kein Zucken ist zu sehen. Jeder Schritt, den er macht, ist ein Statement: gemessen, präzise und fest. Geht da ein Mann, den man neuerdings einen „Lügner“ nennen darf? Oder schreitet da das hohe Amt?

Das zu trennen, ist natürlich schwer. Der Bundespräsident ist, wie seine Vorgänger, vor allem ein Mensch. Christian Wulff, 52 Jahre alt, Ehemann, Familienvater. Die Bundesversammlung hat ihn im Sommer 2010 für fünf Jahre zum ersten Bürger des Staates gewählt. Ausfüllen soll er das Amt mit sich selbst: seiner Person, seiner Integrität und Glaubwürdigkeit.

Doch scheint ihm das nicht mehr zu gelingen. Es vollzieht sich eine Trennung von Amt und Person. Diese Spaltung findet in den Köpfen der Menschen statt. Es ist mittlerweile sieben Wochen her, da wurde bekannt, dass der Präsident auf seiner Karriereleiter kostenlose Urlaube bei Unternehmerfreunden, günstige Darlehen und auch sonst wohl allerlei Annehmlichkeiten mitgenommen hat, die ihm niemand gewährt hätte, wenn er nicht der wichtigste Politiker in seinem Heimatland Niedersachsen gewesen wäre.

Sieben Wochen sind eine lange Zeit. Wulff hat sich für Fehler entschuldigt, doch es sind immer neue befremdende Details seines Politikerlebens ans Tageslicht gekommen. Manches war wichtig, anderes lächerlich. Alles in allem wurde Christian Wulff in den Augen der Menschen zu einem Raffzahn. Zu einem, dem kaum noch jemand glauben will, selbst wenn er die Wahrheit spricht.

Das ist das eine. Doch auch der andere oberste Repräsentant, der glaubwürdige, ist noch da. In der siebten Woche konnte man ihn beinahe jeden Abend in den Nachrichten sehen. Er traf Diplomaten oder hielt Festreden. Am Dienstag stand er auf dem Berliner Gendarmenmarkt und sprach nachdenkliche Worte zum 300. Geburtstag des Preußenkönigs Friedrich II., tags darauf fuhr er zum Verkehrsgerichtstag nach Goslar.

Der Bundespräsident und der "Lügner" existieren parallel

Der Bundespräsident und der „Lügner“ existierten also parallel. Das kann nicht so bleiben. Einer von beiden muss irgendwann aufgeben.

Als Christian Wulff vergangenen Sonntag auf Einladung der Wochenzeitung „Die Zeit“ bei einer Matinee im Berliner Ensemble saß, machte er deutlich, dass er vorhabe, die Berichte über seine Amtsjahre in Hannover weiter zu ertragen. Er glaubt, dass es vorbeigehen, dass alles vergessen werden wird. Dass er „aufstehen kann“, wie einer, der gestrauchelt ist, und man ihn später fürs Geschichtsbuch messen wird an den Taten, die er in seinem Amt noch vollbringen will. Das Urteil über seine Präsidentschaft, sagt er, solle nicht jetzt, sondern nach seiner Amtszeit, also 2015, gefällt werden.

In den nächsten Monaten, das hat sein Amt angekündigt, will er eine Reihe Auslandsreisen antreten. Er will das grelle Bild seiner selbst mit präsidialer Normalität übermalen. Doch kann einer wie er die Glaubwürdigkeit überhaupt noch zurückgewinnen, nach allem, was in diesen sieben Wochen geschehen ist?

In Berlin endet an diesem Sonntag die Bauernmesse „Grüne Woche“. Eine Woche lang trafen sich hier Landwirte, Hersteller von Lebensmitteln, Winzer. Man aß, man trank, man redete. So war es immer. Doch in diesem Jahr war es anders. Da bot ein Bäcker aus Delmenhorst neben Milchzöpfen und Graubrot auch ein „Wulff-Brötchen“ an. Mitnehmen, ohne zu bezahlen. Und die Leute? Sie griffen grinsend zu. Der Bäcker musste sich nicht rechtfertigen, musste keinem erklären, was „wulffen“ heißt. Jedes Kind weiß, was das bedeutet.

Im Nordosten der Republik geht man noch weiter. Da kann man Wetten auf ihn abgeben. „Wie lange noch?“, lockt der Radiosender „Antenne Mecklenburg-Vorpommern“ seine Hörer an die Rundfunkempfänger. Als sei es ein Volkssport, Christian Wulff aus dem Bellevue zu vertreiben, sollen sie tippen, wie lange er noch durchhält. Wer mitmachen will, nennt ein Rücktrittsdatum: morgen, übermorgen, nächsten Monat. Und kann dafür einen „Kurztrip für zwei Personen nach Berlin“ gewinnen. Das Ende des Präsidenten als Marketing-Gag. Der Verfall an Autorität des Mannes, dessen Amt traditionell große Autorität besitzt, geht rasant. Und der Karneval kommt erst noch.

Im Rheinischen bereitet man sich auf Rosenmontag vor. Die Affäre Wulff, verkündeten die Jecken dieser Tage, sei „selbstverständlich“ das Thema der Umzüge. Als Pappmaschee-Hasen auf der Schlachtbank mit Beil im Nacken hat man ihn schon gezimmert, und das wird nicht das bitterste sein, wenn die Kölner oder die Mainzer Karnevalisten erst richtig in Fahrt kommen.

Und sogar im fernen Abu Dhabi grölte vergangenen Dienstag eine ganze Wirtschaftsdelegation, die mit dem deutschen Gesundheitsminister angereist war, spontan los, als sie im feinen Palace-Hotel mit den Worten begrüßt wurde, höchste deutsche Staatsgäste seien an diesem prunkvollen Ort schon abgestiegen. Gemeint waren: Karl-Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff. Zu denen wollte man nicht gehören.

Die Menschen haben ein Gespür für ihre Repräsentanten, wenn es darum geht, was richtig, was anständig, was würdig ist. Liegen sie im Falle Wulff richtig, steht das Urteil über diesen Präsidenten bereits nach diesen sieben Wochen fest.

Leichfertigkeit oder Selbstüberschätzung?

Christian Wulff hat die Wucht der Ereignisse lange unterschätzt. Ob aus Leichtfertigkeit oder Selbstüberschätzung oder vielleicht auch nur, weil ihm zu wenig bewusst war, dass sich Spitzenpolitiker Urlaube und Hochzeiten nicht von Unternehmern sponsern lassen dürfen, mit denen sie gleichzeitig in Regierungsmaschinen um die Welt fliegen. Was auch immer ihn veranlasst haben mag, den Ruf der Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen: Wulff hat geglaubt, und er tut es wohl noch in diesen Tagen, dass ihn die Höhen der Politik vor der letzten Konsequenz bewahren können. Denn nur ein Rechtsbruch wäre so schwerwiegend, dass er zum Rücktritt gezwungen werden kann. Und den müsse ihm erst mal jemand nachweisen.

„Es gibt bisher keine Vorwürfe gegen mich“, stellte Wulff vor einer Woche selbstbewusst klar, als die niedersächsische SPD bekannt gab, sie wolle die CDU-Regierung vor dem Staatsgerichtshof wegen des Verdachts verklagen, über die Beteiligung der Landesregierung an den Unternehmer-Partys „Nord-Süd-Dialog“ den Landtag belogen zu haben. Keine Vorwürfe gegen ihn, der Chef dieser Regierung war? Wie anders kann man einen solchen Satz deuten, als den Versuch Wulffs, alle bisher gegen ihn gerichteten Anschuldigungen geduldig vor Gerichten auszufechten. Dort, wo bekanntlich am Ende derjenige siegt, der mit den besseren Anwälten und Spitzfindigkeiten den Gegner zu überlisten weiß. „Nach bestem Wissen und Gewissen“, sagt Wulff, hätten er und seine Regierung 2010 dem Landtag über den „Nord- Süd-Dialog“ Auskunft gegeben. Der Bürger Wulff kämpft um sein Recht. Ein Präsident gegen das Volk?

Dass Christian Wulff sich ins Dickicht der Formalitäten begeben will, haben Beobachter im Bundestag schon Anfang Januar mit Sorge registriert. Nur so sei zu erklären, erinnert sich einer der CDU-Oberen in der Bundestagsfraktion, dass Wulff im Interview mit ARD und ZDF in die Fehler, die er reuevoll eingestand, nicht auch freimütig die kostenlosen Urlaube bei Unternehmerfreunden in Übersee eingeschlossen hat. Bei alten Freunden auf Norderney hätten er und seine Frau gekocht, gefeiert und schließlich in deren Gästezimmer übernachtet, hatte Wulff sich verteidigt. Und das zum „Menschenrecht“ erhoben, das auch ihm, dem Präsidenten, zustehe. „Dabei geht es doch um nichts weniger, als den harmlosen Besuch bei Freunden“, sagt der Unionsmann. Im Raum steht vielmehr der Verdacht der Vorteilsnahme im Ministerpräsidentenamt. Doch auch die muss ihm einer nachweisen.

Und weil Moral nicht justiziabel ist, macht nun in den Bürofluren des Bundestages das Wort von der „Geiselhaft“ die Runde, weil Wulff mit zu denen gehört, die zum schlechten Ruf der Politiker beitragen. Im Plenum große Reden halten, das können sie, und wenn keiner hinsieht, dann stopfen sie sich die Taschen voll. Dass er sein Haus wie jeder andere auch über Jahrzehnte hinweg ohne Rabatt abbezahle, sagt ein Abgeordneter dieser Tage, „das glaubt mir inzwischen niemand mehr.“ Nach diesen langen Wochen sieht jeder Politiker irgendwie nach einem „Wulffer“ aus.

Wütend auf ihn sind inzwischen viele, die man in Berlin rund um den Reichstag trifft. Vielleicht sogar besonders die, die sich anfangs noch schützend vor ihn gestellt haben: die Parteifreunde, die einstigen Weggefährten aus Niedersachsen. Sie haben ihn verteidigt, mal lauter, mal stiller. Doch manch Unionist glaubt inzwischen sogar, dass die unverständliche Art der Wulffschen Selbstverteidigung keine Tapsigkeit war, sondern Indiz für die tiefere Wahrheit der Vorwürfe.

Nun schweigen Wulffs Freunde. Was sollen sie auch sagen? An Wulffs Ehrgefühl appellieren, ihm den Rücktritt nahe- legen? „Und wenn er dann trotzdem nicht geht?“, fragt einer, auch er will keineswegs seinen Namen in der Zeitung lesen, „was dann?“

Wie es weitergehen soll, darüber kann man zumindest in der Koalition mittlerweile mit niemandem mehr offen sprechen. Tiefes Atmen und Schulterzucken, wenn der Name des Bundespräsidenten fällt. Mittwochabend hat Norbert Lammert zum Neujahrsempfang in den Preußischen Landtag geladen. Wie in jedem Jahr stand die Verleihung des Medienpreises Politik des Bundestages auf dem Programm, mit anschließendem Plausch bei Wein und Bier. Normalerweise ein gut besuchtes Fest, doch in diesem Jahr folgten der Einladung nur wenige aus den Fraktionen und Parteien. Und die, die kamen, huschten rasch wieder davon. Nur nicht über die Affäre sprechen.

Am Donnerstag dann melden die Nachrichtenagenturen, Wulffs Darlehen bei der Stuttgarter BW-Bank, ein Geldmarktdarlehen mit geringen Zinsen, das auf Empfehlung des Wulff-Freundes Egon Geerkens zustande gekommen war, könne von der internen Bankaufsicht nicht beanstandet werden. Alles in Ordnung, alles im Rahmen der banküblichen Regeln. Kommt in der Sache nichts mehr nach, hat Wulff diesen Teil seiner Affäre wohl ausgestanden. Juristisch zumindest. Gemeldet hat sich aber noch keiner – weder eine Bank, noch ein Kunde – der dem Bundespräsidenten bestätigen will, dass es stimmt, was er gesagt hat: dass ein solch kurzfristiges Darlehen zur Finanzierung seines Eigenheims „ganz üblich“ ist.

Und auch Interviews von Parteifreunden, die die Nachricht aus Stuttgart zur Entlastung von Wulff oder zum Wendepunkt in der Affäre verklären könnten, hat man nicht gesehen. Zu tief sitzt der Ärger, zu groß die Furcht vor dem, was noch folgen wird an Enthüllungen, Anklagen und womöglich Untersuchungsausschüssen. Selten stand ein Staatsoberhaupt so allein in der Öffentlichkeit.

Den Medienpreis des Bundestages übrigens hat die Jury in diesem Jahr Jan Grossarth, einem Journalisten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zuerkannt. Er hat die Karriere der CDU-Politikerin Astrid Grotelüschen beschrieben. Mit ihrem Mann hat Grotelüschen einst einen Putenzuchtbetrieb aufgebaut, bevor sie Bundestagsabgeordnete wurde und schließlich Agrarministerin. Zurückgetreten von diesem Amt ist Frau Grotelüschen nach nur acht Monaten, weil sie über Wochen hinweg im Fernsehen immer wieder im Zusammenhang mit toten Puten gezeigt wurde und ihr schließlich der Ruf einer grausamen Tierquälerin anhaftete. Der Preisträger findet, die Ministerin sei eine gute Politikerin gewesen, die dem Druck der Öffentlichkeit jedoch nicht gewachsen war. Sie war Agrarministerin in Niedersachsen. Und der Mann, der sie einst dazu gemacht hat, ist Christian Wulff.

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