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2009 schreibt die „Gala“: „Haarverlängerung liegt im Trend“. Wer einen Kurzschnitt wagt, muss bei Nichtgefallen nicht mehr ewig für den Fehler büßen.

© AFP

Die Bedeutung der Frisur: Die extralange Hängepartie

Wem gehören die Haare der Frau? Ihr selbst offenbar nicht. Oder was meint die Friseurin, wenn sie die abschneidewillige Kundin fragt, was eigentlich ihr Freund dazu sagt?

Der Mann, der die Termine fürs Haarschneiden verteilt, hat die Schnauze voll von Leuten, die sich mit ihren Haaren nicht abfinden wollen. „Am besten wäre es, die Leute würden mit den eigenen Haaren unverkrampft zusammenleben.“ Lange Haare? Kurze Haare? „Mir doch egal“, sagt der Mann für die Termine. Von einem Trend zum androgynen Kurzhaarschnitt hat er nichts bemerkt. „Die Mädchen wollen alle lange Haare. Rechts und links gerade runter.“ Seine eigene Freundin wolle das selbstverständlich auch. „Meine Freundin ist Mainstream“, sagt er. Aus dem schattigen Hintergrund des Salons kommt seine Kollegin ins Licht. „Wollt ihr nicht alle Prinzessinnen sein?“, ruft ihr der Mann entgegen. Die Kollegin nickt. „Eine Prinzessin kriegt eben alles, was sie will.“ „Und dazu braucht eine Prinzessin lange Haare?“ „Ja.“

Glatt sollen sie sein, am besten wie frisch gebügelt, und im Farbverlauf oben dunkler als in den hellen Spitzen. Die „Vogue“ und Anna Wintour können sagen, was sie wollen. Dass Karlie Kloss mit ihrem „Chop“ den „Haarschnitt des Jahres“ besitzt, geschenkt. Fans werden trotzdem meinen, dass sie mit 20 Zentimeter kürzeren Haaren nicht mehr sexy genug ist für den Victoria’s-Secret-Runway. Nicht Engel, nicht Teufel genug. Frauen ohne lange Haare sind keine richtigen Frauen, werden sie sagen. Vielleicht ist es aufschlussreich, diese emanzipatorisch ernüchternde Botschaft einmal in aller Eindringlichkeit zu hören.

Eine junge Frau spricht sie aus, während sie sich an einem Mittwochvormittag in einem Berlin-Charlottenburger Studio für Haarverlängerung 200 Gramm ukrainisches Echthaar akkurat nach brasilianischer Methode in den Haarschopf einarbeiten lässt. Die junge Frau lächelt kokett und wickelt sich dazu das Ende einer Haarsträhne um den Zeigefinger. „Diese Geste“, sagt sie, „die ist wichtig.“ Allein ihretwegen kämen kurze Haare für sie nie wieder infrage. Sie habe ein einziges Mal diesen Fehler gemacht. Weil ihr Gesicht, ihre hohe Wangenknochen einen „cooleren Look“ kleidsam erschienen ließen. „Nie wieder!“ Kurze Haare lassen sich nicht um den Finger wickeln, nicht über die Schulter werfen. „Niemand schaut ihnen nach.“ Sie habe sich mit Extensions aus dem „Afro-Shop“ beholfen, sagt die Berliner Prinzessin, mit Haarclips, die sie regelmäßig benutzt. Der Freund allerdings fing an, sich zu beklagen. Er war es leid, beim Griff in ihr Haar ständig in Plastik-Clips zu fassen. Sie lächelt siegessicher, als sie erwähnt, dass er für die Haarverlängerung zahlt. „Oft schneiden sich Frauen die Haare ab“, sagt sie, „und wenn sie sich verlieben, wollen sie sofort das lange Haar zurück.“ Es gebe keine bessere Verteidigung gegen drohende Konkurrenz. „Ich will immer schöner werden, und ich will die anderen ausblenden“, sagt sie. Bewundern sollen die anderen, sie anstarren. „Ja, auf dieses bewundernde Anstarren kommt es an.“

Man mag die Botschaft in ihrem eindeutigen Bekenntnis zu Wettbewerb und Wachstum seltsam finden und sie abtun, indem man sich rasch vergewissert, dass man im Straßenbild gerade in dieser Saison ausnehmend viele junge Frauen in Bob und Undercut sieht. Sich selbst verstümmelt habende Verlierer also im Sinne der jungen Berliner Langhaarexpertin. Man kann genauso auf die Medien und die Werbeindustrie verweisen, die einen Trend zum Androgynen feiern. Modelt die New Yorker Künstlerin Casey Ledger nicht exklusiv als Männermodel, und wurde der in Bosnien geborene Andrej Pejic nicht bereits 2011 unter die 100 schönsten Frauen weltweit gelistet? Vollkommen richtig, die Fashion- und Gender-Elite interessiert sich längst nicht mehr dafür, ob die wallende Mähne einer „echten“ Frau gehört. Sie sieht das Ende der klassischen Geschlechterklischees gekommen, und der Markt reagiert durchaus interessiert. An der mehrheitsfähigen Weltsicht der Berliner Prinzessin ändert das gar nichts. Sie glaubt an die Macht ihrer Haare wie an einen Wettbewerbsvorteil, den sie nicht einbüßen will.

Krisenzeiten, sagt man, sind gute Zeiten für das Thema des Androgynen. Wenn sich Machtbalancen verschieben, ändern sich auch die Bilder, die sich Männer und Frauen voneinander machen. Die Bilder können einander ähnlicher werden, und die französische Philosophin Elisabeth Badinter hat diese Androgynität als utopisches Potenzial schon 1986 euphorisch begrüßt. Umgekehrt können Krisenzeiten aber auch gute Zeiten für die Prinzessin sein, die sich an ihre Haare klammert und darauf beharrt, dass, wenn ihre Haare nur glänzend und lang genug sind, sie alle Sorgen los ist.

„Sich die Haare kurz zu schneiden, dazu braucht man Mut.“ (Eine junge Berlinerin)

Haare symbolisieren Leben und Vitalität, und man hat vormals von ihrer Beschaffenheit auf den Charakter, die Gesundheit des zugehörigen Menschen geschlossen. Gewarnt hat man davor, abgeschnittenes Haar liegen und es womöglich Fremden zu überlassen. Wem das Haar in die Hände fällt, der kann Einfluss nehmen. Man denke an Simson, den biblischen Helden. Als Delila ihn an die Philister verriet und dem schlafenden Draufgänger mit einer Schere die sieben Locken raubte, verlor Simson seine unbesiegbare Stärke, seine Verbindung zu Gott. Er war, so lange bis das Haar nachgewachsen war und Gott wieder mit ihm sprach, ein gewöhnlicher Mann wie andere. Es ist eine der Urszenen über das Haar. Eine zweite erzählt von der Sünderin, die Jesus die Füße wusch und mit ihren langen Haaren trocknete. Die Tradition hat Maria Magdalena mit dieser Figur identifiziert und die Geste als Zeichen der Bekehrung gedeutet. Das Haar der sündigen Verführerin wird keusch. Das ist die Krux.

Wem gehören die Haare der Frau? Wer bestimmt über sie? Von Anbeginn ist das die Frage patriarchaler Erzählungen gewesen, und jeder Schleier entscheidet diese Frage noch heute für alle sichtbar zu Ungunsten der Frau. Ihr Haar gehört nicht ihr, geschweige dem Sommerwind. Davon abgesehen, was meint die Friseurin, die neugierdehalber wissen möchte, ob man die Entscheidung, von schulterlang auf „richtig kurz“ zu gehen, mit dem Freund besprochen habe. Klingt in ihrer Frage nicht ein leiser Zweifel an, ob Frauen rein nach Belieben mit ihren Haaren verfahren dürfen?

„Sich die Haare kurz zu schneiden, dazu braucht man Mut“, sagt eine 15-jährige Schülerin. Die Frage, was genau daran Mut erfordert, ist ihr peinlich. „Die Leute denken, du bist lesbisch“, druckst sie schließlich hervor. Ein freiwilliger Verzicht auf langes Haar ist also unwahrscheinlich – außer es gelten die folgenden Motive: 1. Lesbisch. 2. Eine verlassene Frau braucht einen neuen Haarschnitt. 3. Nach einer Chemotherapie sieht man so aus. 4. Im Alter werden die Haare dünn und alle Katzen grau. Das Klischee zielt – von den sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden Grau- und Silberschattierungen abgesehen – auf die Männer und den Tod. Auf den erlittenen oder drohenden Verlust der Attraktivität. Der Längenwechsel ändert das Image radikaler, als es jeder Kleiderkauf vermöchte. Von einer „grundlegenden Typalternative“ spricht die Kulturwissenschaft. Grob übersetzt: Eine Frau kann nicht gleichzeitig in kurzem Haar und als Sinnbild der Weiblichkeit erscheinen. Sie muss sich entscheiden, verlangt die traditionelle Lesart, wonach Frauenhaar ein Teil der Natur und das Haar des Mannes Teil der Politik ist.

Der selbstbewusste Bürger des 18. Jahrhunderts besaß kurzes Haar. Das Militär fordert mit dem Verweis auf Ordnung und Hygiene von seinen Soldaten ebensolches. Zu viel Haar verspricht einen ungehorsamen Kopf. Ein heftiger Verstoß gegen die väterliche Autorität, ein Akt des Ungehorsams konnten lange Männerhaare im Nachkriegsdeutschland bis in die 70er Jahre sein. Die langen Haare der Frau dagegen hat niemand als Ausdruck von Ego und Willensstärke verstanden. Provozieren konnten sie trotzdem – und zwar als Naturgewalt und Ausdruck weiblicher Sexualität, die man bändigen und dressieren muss. Der Kunsthistoriker Christian Janeke hat darauf hingewiesen: Je freier, ungezügelter, desto „unschicklicher“ wirkt das Haar. Die Frau öffnet nicht nur das Haar, wenn sie das Haar öffnet. So träumt es sich die Männerfantasie und dazu Legionen von Romanszenen und schwül-hysterischen Kinobildern, in denen über das Gesicht der wunderschönen, durch ihren Ehemann arg vernachlässigten Protagonistin nach der ersten Begegnung mit dem schneidigen Lieutenant eine Strähne der Erregung fällt. Wenig später sehen wir die Protagonistin wieder, zum Beispiel vor dem Spiegel ihres Boudoirs. Mit verträumtem Ausdruck nestelt sie in ihrem ehrfurchtgebietend prächtigen Haar. Der Anblick lässt keinerlei Zweifel daran, was hier vorgefallen ist. Ein Kerl muss sein, wer es mit diesen Haaren aufnehmen kann. Wer nicht wie Scharen von Schiffern einer sich hoch über dem Rhein kämmenden Jungfrau zum Opfer fällt. Einer erotischen Flut gleichen die romantischen Locken, sie bedeuten Lust und Gefahr. Das Märchen nennt diese Dinge besonders drastisch beim Namen. Was will der Königssohn, der an Rapunzels Haaren hinaufklettert wenn nicht Sex? In seiner Geilheit jedenfalls lässt er sich täuschen und steigt anstatt an Rapunzels Haaren an dem von der Hexe geraubten Zopf hinauf. Beim Blick in das schrumpelige Hexengesicht stürzt der Prinz vor Entsetzen aus dem Turm, hinein in die Rosendornen, die ihm die Augen ausstechen und ihn lehren, Sex nicht mit Liebe zu verwechseln.

Ein Fetisch kann es sein, dieses Haar. Abenteuerliche Geschichten über Männer, die sich an abgeschnittenem Frauenhaar erregen, kennt die Psychoanalyse. Der ganze Körper der Frau wäre zu viel, der Fetischist würde ihn nicht verkraften. Die menschheitsalte Form der Schändung bedient sich derselben Logik. Um eine Frau zu demütigen, sie öffentlich zu brandmarken, rasiert man ihr die Haare vom Kopf. Soldaten schnitten mitgelaufenen Prostituierten die Haare ab, wenn sie genug von ihren Diensten hatten. Mutmaßliche Ehebrecherinnen, vermeintliche Hexen brandmarkte man im Mittelalter durch die Schur. Der Angriff auf die Haare zielt immer auf die Person. Die Nazis haben auch diese Grausamkeit perfektioniert. Nackt hatten sich die Frauen in der sogenannten „KZ-Aufnahmeprozedur“ auszuziehen, bevor ihnen SS-Männer nicht nur den Kopf, sondern dazu jedes Körperhaar vom Leib rasierten. Filz hat man dann aus den Haaren der Ermordeten gemacht, Socken für die Füße deutscher Soldaten – so als wolle man auch die Toten noch einmal schänden.

Möglicherweise sollte man auch nicht so schnell vom Tisch wischen, was das 15-jährige Mädchen gesagt hat. Dass es Mut verlange, sich die Haare kurz zu schneiden. Immerhin steigt eine Frau im Augenblick, da die Schere ansetzt, symbolisch aus dem Mythos der Weiblichkeit aus. Sie trennt sich – die Freiwilligkeit vorausgesetzt – von der Naturgeschichte ihrer Haare und besteht darauf, weder Prinzessin noch Hexe zu sein. Sie hält ihren eigenen Kopf hin, wenn man so will – ganz nach der bekannten Friseurregel, wonach langes Haar das Haar und kurzes den Kopf betont. Gerade 100 Jahre ist die Mode der ersten weiblichen Kurzhaarschnitte her.

„Lange Haare betonen die Haare, kurze Haare betonen den Kopf“ (Sprichwort der Friseurzunft)

Künstlerinnen am Theater, Tänzerinnen, die Schriftstellerin Colette, die Mannequins des genialen französischen Modemachers Paul Poiret zeigten sich 1908 in seitengescheiteltem Bob. Eine Aneignung könnte man es nennen. Zum ersten Mal war das abgeschnittene Haar kein Stigma, sondern ein selbstbewusstes Signal. Die kurzen Haare lassen Bewegungen flinker und wendiger aussehen. Es dauerte einige Jahre, bis der Look breitere Nachahmung fand. Der Erste Weltkrieg hatte alte Gewissheiten weggefegt und ein Lebensgefühl hinterlassen, das nichts mehr aufschieben will. Dienstmädchen entscheiden sich, nicht mehr zugunsten der Herrschaften auf das eigene Leben zu verzichten. Junge Frauen suchen eine Arbeit und gehen nach Feierabend aus. Sie tragen kinnlange Pagenköpfe und tauchen ihre Münder in tiefes Rot. Man sieht ihre Beine, wenn sie in bequem geschnittenen Röcken nach einem Platzregen über eine Pfütze springen. Im Vergleich mit ihnen wirkt manch heutige Mittelstandsprinzessin mit glatt gebügelten Haaren oder einer Blogger Dutt genannten Haarzwiebel auf dem Kopf geradezu fade.

Die Garçonne der 20er Jahre trieb die Lust an der Verwandlung auf die Spitze und leistete sich sämtliche Vorzüge der perfekt geschneiderten englischen Herrenmode. Das Haar streng zurück gekämmt, im eleganten Anzug und statt mädchenhafter Unschuld eine mutwillig-spöttische Sinnlichkeit im Gesicht – diese „mode d’après guerre“, ihre Attitüden, ihr Formenreichtum wagte sich vor in der Kunst des Androgynen, viel weiter als es sich die meisten heutigen Zitate eines globalisierten Konsums je leisten würden. Victoria Beckham trug einen Haarschnitt „à la garconne“, doch wird man ihr alles nachsagen können, nur nicht den Hang, die Grenzen zwischen den Geschlechterbildern zu verwischen. Ein anderes der aktuelleren Kurzhaar-Zitate ist da schon wesentlich raffinierter. Es stammt von Emma Watson, die sich nach Abschluss des achten und letzten Harry-Potter-Films ihre struppigen Hermine-Hexen-Haare in einen „Pixie“ verwandeln ließ und sich bis aufs Komma genau auf Mia Farrow bezog, die in einem Hexen-und-Teufels-Film ganz anderer Art, in „Rosemary’s Baby“ 1968 sehr bleich in der Tür steht und auf die Frage ihres Ehemannes, ob sie für diese Frisur etwa noch Geld bezahlt habe, antwortet: „It’s Vidal Sassoon. It’s very in.“

Jüngst war von dieser Episode wieder die Rede. Anlass war die Wiederholung eines oft kolportieren Gerüchtes. Frank Sinatra habe Mia Farrow noch am Set die Scheidungspapiere zustellen lassen, derart geschockt sei er beim Anblick des „Pixie cut“ gewesen. Als im Januar die „New York Times“ auf ihrer Fashion-&- Style-Seite die Anekdote ebenfalls zitierte, antwortete Mrs. Farrow persönlich mit einem Brief. Sie habe sich bereits 1966 für die Serie „Peyton Place“ ihr Haar kurz geschnitten, schrieb sie und legte Fotos von ihrer Hochzeit mit Frank Sinatra bei. „Ihr hochgeschätzter Detektiv der Haar-Geschichte“ unterzeichnete sie ironisch. Doch man fragt sich, wie sich das Gerücht überhaupt etablieren konnte. Ist der Zwang, das Haar der Frauen durch die Reaktion der Männer zu deuten, tatsächlich derart unüberwindlich? Die Berliner Prinzessin im Extensionsstudio und mit ihr der biologistische Attraktivitätsforscher würden es behaupten. Sie lesen im Dickicht der Haare die Sprache der Hormone, die Sprache der Jagd. Unter umgekehrten Vorzeichen tun das übrigens auch die Aktivistinnen von Femen, die in ihren Haaren Blumenkränze, symbolisch Jungfernkränze, tragen. Diese Haare gehören nicht euch!, rufen sie herüber und zitieren dabei exakt das traditionelle Frauenbild, in dem Körper und Haare der Frau ein grausam umkämpftes Territorium sind. Als zornige Mädchen treten sie auf, als kreischende Prinzessinnen, und die Fernsehbilder zeigen, wie die Wachmänner sie mit starken Armen wegtragen. Es sind, mediengerecht präsentiert, die alten Bilder. Und es sind exakt die alten Demütigungen, wenn, wie nach einer Protestaktion gegen den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko im Februar dieses Jahres, Männer Frauen in einem Waldstück die Köpfe scheren.

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