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Das Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital und ein Glas Wasser

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Dignitas-Gründer zu Sterbehilfe: Diese zehn eklatanten Mängel hat die deutsche Debatte

Irreführende Wortwahl und Ignoranz prägen die Sterbehilfe-Debatte in Deutschland. Dass die positiven Erfahrungen der liberalen Schweiz ausgeblendet werden, lässt bloße Symbolpolitik befürchten. Ein Gastkommentar

Ein Kommentar von Ludwig A. Minelli

Die Debatte in Deutschland über ein Gesetz zur Sterbehilfe zeichnet sich insbesondere im Bundestag durch das Vorherrschen von sinnwidrigen Schlagworten, weitestgehendem Mangel an Kenntnis der Fakten und bewusstem Ausblenden von wichtigen Bereichen aus, die aber in die Debatte miteinbezogen werden sollten. Vor allem die Ignoranz, mit welcher das Parlament sowohl das Problem der Vermeidung von Suizidversuchen als auch die durchweg positiven Erfahrungen in der liberalen Schweiz ausgeblendet hat, lässt befürchten, dass es einer Mehrheit von Abgeordneten um bloße Symbolpolitik geht, keineswegs jedoch um eine vernünftige Lösung manifester gesellschaftlicher Probleme.

Dass sich dabei zudem die Tendenz abzeichnet, dass sich das Parlament über den vielfach dokumentierten Wunsch nach Selbstbestimmung in letzten Dingen von einer großen Mehrheit aller in Deutschland lebenden Menschen hinwegzusetzen anschickt, ist bei einem Thema, bei dem es um Leben oder Tod geht, und in einem Land, welches in seiner Geschichte zufolge ideologischer Verblendung in diesen Fragen bereits mehrfach schwer versagt hat, kaum verständlich. Wer die deutsche Debatte insbesondere des Jahres 2014 um Fragen der Sterbehilfe aufmerksam verfolgt hat, konnte dabei mindestens zehn wesentliche Mängel feststellen:

1. Politiker wie Journalisten sprechen oft unspezifisch und irreführend von "aktiver Sterbehilfe", also der Tötung auf Verlangen; sie scheinen bis heute nicht verstanden zu haben, dass sich niemand dafür einsetzt, in Deutschland "aktive Sterbehilfe" (wie etwa in Holland, Belgien oder Luxemburg) zuzulassen. Verlangt wird nur, die in Deutschland mindestens seit 1871 zulässige Beihilfe zum Suizid weder für Ärzte noch Organisationen einzuschränken.
2. Die deutsche Debatte ist stark eingeengt. Sie thematisiert vorwiegend zwei Fragen: Soll "organisierte" Sterbehilfe verboten werden? Und: Sollen Ärzte bei einem selbst gewählten vorzeitigen Lebensende Hilfe leisten dürfen?

3. Das zweitwichtigste gesellschaftliche Problem (an erster Stelle steht die Arbeitslosigkeit), wird vollkommen ausgeblendet: Die hohe Zahl an gescheiterten Suizidversuchen in Deutschland. Experten schätzen diese auf jährlich 200.000 bis 500.000. In der deutschen Debatte geht es aber überhaupt nicht darum, ob vernünftige Sterbehilfe dank der damit verbundenen ergebnisoffenen Beratung diese erschreckend hohe Zahl sogar stark reduzieren könnte. Bei Dignitas haben wir entsprechende Erfahrungen gemacht.

4. Die deutsche Debatte fragt nicht nach dem wirtschaftlichen Interesse von Pharma-Industrie und Krankenhäusern an der Ausbeutung schwerstkranker Menschen sowie an gescheiterten Suizidversuchen. Krankenhäuser und die entsprechenden Pharmafirmen verdienen ausgesprochen gut an der Betreuung terminal Erkrankter in deren letztem Lebensjahr. Wieso wird das gar nicht angesprochen? In einer ehrlichen Debatte müsste dieser Aspekt zumindest thematisiert werden.

5. Die deutsche Debatte insbesondere im Bundestag zeichnete sich durch viel benutzte polemische Schlagworte und Sprüche aus. Etwa: "Menschen sollen an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben" oder "Suizidbeihilfe soll nicht zum Normalfall werden". Wortspiele und Behauptungen sind aber keine Argumente. Zudem passen sie nicht zum Thema: Bei einem begleiteten Suizid stirbt niemand durch die Hand eines anderen, sondern stets durch die eigene.

Solche Aussagen sollen nur ablenken und das Nachdenken verhindern. In Ländern, in welchen Suizidbeihilfe seit Jahrzehnten praktiziert wird, ist diese nie zum Normalfall geworden, sondern steht Menschen in Ausnahmefällen zur Verfügung, ohne dass die Schwerstkranken deshalb gezwungen werden, ihr eigenes Land verlassen zu müssen.

6. Die deutsche Debatte hat bislang nicht wahrgenommen, dass die höchste menschenrechtliche Instanz in Europa, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, für jeden Menschen, der geschäftsfähig und in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln, das Recht auf Suizid ausdrücklich bestätigt hat.

7. Die deutsche Debatte vermeidet bislang den Blick über die eigenen Grenzen hinaus. So nimmt sie nicht wahr, dass in ganz Europa die Politiker in Fragen der Sterbehilfe nach einer vernünftigen Liberalisierung suchen. Nur in Deutschland und Österreich wollen Politiker das Rad der Zeit ins Mittelalter zurückdrehen.

8. Die deutsche Debatte nimmt nicht wahr, dass völlige Freiheit die geringste Quote an Sterbefällen mittels Sterbehilfe zur Folge hat: Ausgerechnet der europäische Staat mit der größten Liberalität in dieser Frage – die Schweiz, welche bislang jede gesetzliche Regelung von Beihilfe zum Suizid nicht zuletzt auch wegen des Ergebnisses von Volksabstimmungen im Kanton Zürich abgelehnt hat – beweist dies. Seit 30 Jahren bleibt dort diese Quote unter einem Prozent aller Sterbefälle.

Ludwig A. Minelli
Ludwig A. Minelli ist Gründer und Generalsekretär des schweizerischen Vereins "Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben" auf der Forch bei Zürich sowie Erster Vorsitzender des deutschen Vereins "Dignitas – Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben" (Sektion Deutschland) e.V. in Hannover.

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9. Die deutsche Debatte steuert auf eine Regelung zu, durch die die Beihilfe zum Suizid nur Angehörigen, nicht aber verantwortlich handelnden Organisationen gestattet wäre. Damit werden gewissermaßen nur Laien, nicht aber die Fachleute zum Handeln ermächtigt. Weltweit scheitern ungleich viel mehr Suizidversuche, als dass sie gelingen. Ergebnisoffene Beratung senkt vor allem die Zahl der Suizidversuche. Dem Prinzip "So wenig Suizidversuche wie nur immer möglich, so viele begleitete Suizide wie gerechtfertigt" kann nur durch Einsatz von Fachleuten in den Vereinen, welche die Selbstbestimmung am Lebensende sichern helfen, nahe gekommen werden.

10. Die deutsche Debatte blendet aus, dass Ärzte normalerweise keine Fachleute für Beihilfe zum Suizid sind; es fehlt ihnen nicht nur die entsprechende Ausbildung, es fehlt ihnen auch die Erfahrung. Dies gilt selbst für die Niederlande; dortige Studien zeigen oft Versagen von Ärzten bei Freitodbegleitungen.

Noch sind die Würfel im Bundestag nicht gefallen. So bliebe noch Zeit, die Mängel aufzuarbeiten und die Angst vor der Freiheit, welche einer vernünftigen Lösung des Problems in Deutschland noch immer im Wege steht, zu überwinden, ganz im Sinne der Mahnrufe des Herrn Bundespräsidenten Joachim Gauck: Freiheit und Verantwortung!

Ludwig A. Minelli ist Gründer und Generalsekretär des schweizerischen Vereins "Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben" auf der Forch bei Zürich sowie Erster Vorsitzender des deutschen Vereins "Dignitas – Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben" (Sektion Deutschland) e.V. in Hannover. Minelli hat die gesamte Orientierungsdebatte des Bundestags vom 13. November 2014 auf der Website www.dignitas.ch im Einzelnen kommentiert: http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/diginpublic/stellungnahme-bundestagsdebatte-13112014.pdf. Sein Beitrag erscheint im Rahmen der Tagesspiegel-Debatte zur Sterbehilfe.

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