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Romy Weyrauch (links) aus dem Osten und Henrike Terheyden aus dem Westen. Zusammen mit anderen Theaterkollegen haben sie das Drama "1989 [exit ghost]" in Dresden inszeniert.

© Jana Demnitz

Dritte Generation Ostdeutschland: The Next Generation - Projekt Zukunft

Junge Theaterleute aus Ost und West fühlen sich der so genannten Dritten Generation Ostdeutschland verbunden und haben in Dresden ein Theaterstück über die Wende und das deutsch-deutsche Miteinander auf die Bühne gebracht. Dabei stellen sie auch kritische Fragen über unsere heutige Gesellschaft und den Kapitalismus.

Dort steht er, auf der dunklen Bühne, ein junger, schlanker Mann um die 30, blonde, kurze Haare, wache Augen. „Ein Bild“, sagt er, „da sind unglaublich viele Menschen. Sie drängeln und schieben sich aneinander vorbei, sie rufen: ´Wir bleiben hier!` und ´Wir wollen Freiheit!`."

Es ist Premierenabend im Projekttheater in Dresden. Dicht an dicht sitzen ältere Herren mit Nickelbrille neben jungen Menschen mit stylischer Nerd-Brille und hören erwartungsvoll zu.

Unter ihnen lauscht auch gebannt eine junge Frau, ebenfalls um die 30. Braune, lange Haare, schwarzes Abendkleid, geschärfter Blick. Mehr als alle anderen verfolgt sie die Bewegungen des Schauspielers, hängt an seinen Lippen und scheint jedes Wort lautlos mitzusprechen.

Die konzentrierte Zuschauerin ist Romy Weyrauch. Sie ist 1983 in Erfurt geboren, in Berlin aufgewachsen, hat in England und Hildesheim Drama und Kulturwissenschaften studiert und ist Regisseurin ihres eigenen Stückes geworden. Ein Stück mit dem kryptischen Titel "1989 [exit ghost]".

Das Drama beschäftigt sich mit Themen, die Teil ihres Lebens sind und die sie so sehr beschäftigt haben, dass sie sie künstlerisch verarbeiten musste: ihre Kindheit in der Deutschen Demokratischen Republik, die Wende, das Aufwachsen in einem wiedervereinigten Land und letztendlich die kritische Auseinandersetzung mit der DDR und der heutigen Bundesrepublik – als erwachsene Frau. Sie spürte ein undefinierbares Gefühl der inneren Zerrissenheit, vielleicht auch Heimatlosigkeit.

So wie Romy Weyrauch fühlen viele der Mitte 20- bis Mitte 30-Jährigen, die in der DDR geboren wurden und im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen sind. Mittlerweile gibt es für diese 2,4 Millionen Menschen mit Ost-Biografie auch einen konkreten Namen: "Dritte Generation Ostdeutschland". Eine gleichnamige Initiative, die vor zweieinhalb Jahren von jungen Ost- und Westdeutschen gegründet wurde, kreierte diese Bezeichnung und macht seit dem durch Treffen, eine Bustour und einem Buch auf sich aufmerksam. "Ein Glücksfall", wie Romy Weyrauch sagt, so stehe sie jetzt nicht mehr alleine da.

Diese vorrangig gebildeten, flexiblen und gut vernetzten Erwachsenen haben wohl wie kaum eine Generation vor ihnen die Freiheiten und Möglichkeiten in einem friedlichen Europa so intensiv und konsequent genutzt und ausgenutzt. Viele haben in England, Spanien oder Portugal studiert, sprechen zwei oder drei Sprachen und zählen Menschen aus den USA, Australien und Brasilien zu ihren Facebook-Freunden.

Während sich ihre eingesperrten DDR-Eltern in Karl-Marx-Stadt, Potsdam und Rostock nach London, Paris und Rom träumten, sind ihre Kinder zu Weltenbummlern geworden und leben, lernen und lieben ganz selbstverständlich in diesen Städten. Aus den DDR-Kindern sind nicht nur Bundesbürger geworden, sondern auch Europäer und als solche verstehen sie sich auch.

Vielen dieser "Dritten Generation" ist es auch nicht egal, dass Gleichaltrige in Spanien, Portugal und Griechenland wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise und Verschuldung in ihren jeweiligen Ländern keinen Job finden, von Armut bedroht sind und kaum eine Zukunftsperspektive haben. Die Ängste ihrer ehemaligen Kommilitonen, WG-Mitbewohnern und Arbeitskollegen in Madrid, Lissabon und Athen sind auch Teil ihrer Lebenswelt geworden.

Die globale Finanzkrise, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Konfrontation mit den Eltern und die kritische Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung – aus dieser Gemengelage hat sich Romy Weyrauchs Regiearbeit ergeben. Ein komplexes Unterfangen.

Die Dritte fragt die Zweite Generation

Aber warum tun sich die Theaterleute aus Ost und West das an? Sind in den vergangenen 23 Jahren nicht schon genug öffentliche Diskussionen über den Unrechtsstaat, Wendegewinner und Wendeverlierer, den "Jammer-Ossi" und "Besser-Wisser-Wessi" geführt worden? Die Menschen sind vor mehr als zwanzig Jahren für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen – und haben sie in einem vereinigten Deutschland bekommen. Reicht das nicht?

"Nein", sagen die jungen Theaterleute und "nein", sagt auch Romy Weyrauch, für die noch lange nicht alles über die DDR, die Wende und den Konsequenzen daraus für das heutige Zusammenleben gesagt worden ist.

Als Anfang 30-Jährige beginnen sie, ihre Eltern kritisch nach der jüngsten deutsch-deutschen Vergangenheit zu befragen. "Was habt ihr damals eigentlich gemacht? Und warum gab es im Zuge der Wende den sogenannten ´Dritten Weg` nicht?" Sie meinen eine demokratisch reformierte DDR. Eine Idee, die mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hinfällig wurde.

"Wir wollen Freiheit und Demokratie." Szene aus dem Theaterstück "1989 [exit ghost]". Das Drama ist eine Kooperation zwischen dem Theaterkollektiv "Theatrale Subversion" und dem "Projekttheater Dresden" und wurde durch das Doppelpass-Programm der Kulturstiftung des Bundes gefördert.
"Wir wollen Freiheit und Demokratie." Szene aus dem Theaterstück "1989 [exit ghost]". Das Drama ist eine Kooperation zwischen dem Theaterkollektiv "Theatrale Subversion" und dem "Projekttheater Dresden" und wurde durch das Doppelpass-Programm der Kulturstiftung des Bundes gefördert.

© Promo, Peter Kreibich

Dass dieses Theaterstück über die friedliche Revolution im Herbst 1989 und das deutsch-deutsche Miteinander überhaupt aufgeführt werden kann, ist schon ein Statement für die junge Frau. "Ich habe mir eigentlich immer verboten, das zu diskutieren, weil ich ja eigentlich gelernt habe, dass Ost und West kein Thema mehr sein sollen", sagt Romy Weyrauch. Es war ein langer Prozess zu erkennen, dass es für sie trotzdem ein Thema ist – und auch sein darf.

Anfang der 90er wechselt die Schülerin auf ein humanistisches Gymnasium mit Altgriechisch und Latein nach Berlin-Reinickendorf – "quer von Südost nach Nordwest". Lange fühlt sie sich dort unwohl. Einige ihrer 14-Jährigen Mitschüler fahren mit Freunden in den Spanienurlaub, den die Eltern bezahlen; andere haben bereits mit 18 ein Auto vor der Haustür stehen. Materieller Überfluss, der sie das erste Mal fragen lässt: "Bin ich falsch hier?".

Als sie später in Hildesheim studiert, spürt sie wieder dieses "Unwohlsein". Viele Menschen hätten in der Universitätsstadt ein ganz anderes Selbstverständnis, in ihrem Leben zu stehen – selbstbewusster, bestimmter, erinnert sich Romy Weyrauch. Wieder fühlt es sich für sie an, als passe sie nicht richtig "in diese Welt". Ganz bewusst stellt sie sich die Frage, ob ihre DDR-Herkunft etwas mit dem Fremdeln zu tun haben könnte. Sie liest Bücher über Wendekinder, sieht sich Dokumentationen und Fotos an und spricht mit Gleichaltrigen. Sie merkte: "Da waren ganz viel Wut und verschüttete Emotionen." Die mussten raus.

Eine Wut und dieses "Unwohlsein" darüber, dass die DDR entweder als Stasi-Land oder als nostalgischer Wohl-fühl-Ort verklärt wird, dass 1990 Alternativen zur schnellen Wiedervereinigung nur kurzzeitig diskutiert wurden, das Unverständnis darüber, dass viele Menschen in diesem Land wenig bis gar nicht über ihre individuelle Erfahrungen hüben und drüben sprechen. Sie setzte sich hin und fing an zu schreiben.

Nicht zuletzt kreisen die Gedanken der jungen Theaterleute auch immer wieder um die Frage des "Dritten Weges". Sie fragen sich, warum es nach dem Mauerfall im November 1989, als für wenige Monate Bürgerrechtler, Künstler, Intellektuelle, Kirchen- und Parteienvertreter auch über einen demokratischen Sozialismus in einer erneuerten DDR sprachen, eigentlich nicht anders gelaufen ist, warum es keine demokratisierte DDR gab und keine neue deutsch-deutsche Verfassung?

Weil "wir überfordert waren", sagt die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe heute. "Wir hatten keinen Apparat, wir hatten keine Erfahrung. Wir haben das Beste daraus gemacht". Außerdem sei das DDR-Wirtschaftssystem am Ende gewesen und man wusste auch nicht, wie lange Gorbatschow noch an der Macht sein würde.

Die heute 59-Jährige zündet sich in ihrer Prenzlauer Altbauwohnung erst einmal eine Zigarette an. Sie wirkt nachdenklich, wenn sie über die DDR und die Wiedervereinigung spricht. Ihre Hände ruhen auf einem alten, robusten Holztisch, sie kann von einem bewegten Leben berichten. Das einer Dissidentin, die Häftling war im Stasi- Untersuchungsgefängnis, Bürgerrechtlerin, Aufklärerin und Versöhnerin. Heute ist Ulrike Poppe Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur.

Schon von Amts wegen lassen sie die DDR und ihre Spätfolgen nicht los. Wenn ihr vor 23 Jahren aber jemand gesagt hätte, dass im Jahr 2013 die DDR mit ihren rund 16 Millionen Einwohnern immer noch so präsent in den Köpfen der Menschen ist, sie hätte es nicht geglaubt.

Warum aber hinterfragen junge Deutsche - vorrangig aus dem Osten - die gewollte Vereinigung? Warum jetzt? Und warum, wenn sie doch in Freiheit leben mit allen Annehmlichkeiten?

"Kritische Reflektion", sagt der Psychoanalytiker Dr. Hans Joachim Maaz. Diese Reflektion sei aber auch ein anstrengender und schmerzlicher Prozess - über die Eltern und die eigenen Fehlentwicklungen, heikle Themen, die erst einmal besprochen werden müssten, bevor man sich dann weiterentwickeln könne, sagt er. In Zeiten der Finanzkrise, wachsender Armut und Unsicherheit suchen einige nach neuen Lösungen, andere täten lieber gar nichts, bevor sie etwas Falsches tun. "In 20 Jahren werden ihre Kinder auch fragen, was habt ihr damals eigentlich während der Finanzkrise gemacht", sagt Hans-Joachim Maaz.

Sehen Sie hier das Video zum Treffen der "Dritten Generation Ost":

In Dresden steht wieder ein junger Mann auf der Bühne und fragt: "War die deutsch-deutsche Wiedervereinigung der Anfang vom Ende des Kapitalismus?" Schweigen im Saal, draußen weht ein kalter Wind durch die Neustadt. Die Regisseurin Romy Weyrauch weiß, dass sie und ihre Theaterkollegen provokante Fragen in ihrem Stück "1989 [exit ghost]" stellen. "Wir haben auch nicht die Antworten“, sagt sie, "aber uns geht es um das Begreifen von Verantwortung in dieser Gesellschaft" und dazu gehöre auch das Fragen.

Lesen Sie hier das ausführliche Interview mit Ulrike Poppe.

Lesen Sie hier das ausführliche Interview mit Dr. Hans-Joachim Maaz.

Weitere Vorstellungen von "1989 [exit ghost]" in Dresden: 04./05./06.04.2013 und im Rahmen des X pe d/t itionen Festivals im Sommer: 26.-29.06.2013.

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