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Ein Jahr vor der Bundestagswahl: Merkel und ihr Flohzirkus

Die Kanzlerin regiert nüchtern, die Koalition zankt am liebsten – und die Krise dauert und dauert. Aber die Opposition tritt auf der Stelle. Wo steht die Politik, ein Jahr vor der Bundestagswahl?

Von Robert Birnbaum

Neulich hat die Kanzlerin die Arme ganz weit ausgebreitet und ihr Volk hineingeschlossen. „Deutschland geht es gut“, hat Angela Merkel gesagt, hat das anschließend ein wenig ausgeführt – Arbeitslosenzahlen unter drei Millionen, drei Prozent Wachstum, geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa, Krise ganz gut durchgestanden –, und dann hat sie hinzugefügt: „Das ist vor allen Dingen der Erfolg der Menschen in diesem Lande, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Unternehmer.“

Das Volk, so weit es auf der Besuchertribüne anwesend ist an jenem Mittwochmorgen in der Haushaltsdebatte im Reichstag, nimmt das Lob ohne sichtbare Regung zur Kenntnis. In der aktuellen Berichterstattung bleibt es unerwähnt – es gibt Wichtigeres, das Verfassungsgericht hat gerade Merkels Euro-Rettungskurs passieren lassen. Macht nichts. Wir werden solche Sätze bald häufiger hören; demnächst, wenn gewählt wird.

Noch ein Jahr, auf den Tag genau. „So lang geht’s noch?!“ sagt der Mitarbeiter eines CDU-Abgeordneten. Er meint das scherzhaft, obwohl – ein bisschen Ernst ist dabei. Sein Chef gehört zu jenen Christdemokraten, die es mit den Bremer Stadtmusikanten halten: Etwas Besseres als diese Koalition finden wir überall.

Sein Chef kann sich das Motto leisten. Er ist jung und weiß einen treuen Wahlkreis hinter sich. Anderen ist eher bang zumute, bei der FDP zum Beispiel, wo sich selbst im besten denkbar erscheinenden Fall die Hälfte der Abgeordneten nach einem bürgerlichen Beruf wird umsehen müssen.

Doch bei den einen wie den anderen herrscht ein ganz sonderbares Gefühl, ein Gefühl, das sich sogar bis tief in die Reihen der Opposition verbreitet hat. Man könnte es Merkel-Fatalismus nennen. Wenn keine Katastrophe passiert, sagt das Gefühl, ist dieser Kanzlerin politisch nichts anzuhaben. Und wenn eine Katastrophe passiert, dann wahrscheinlich erst recht nicht.

Mit Vernunftgründen ist das Gefühl nur bedingt erklärbar. Sicher, Merkel hat es geschafft, in den Krisen der letzten Jahre ein scheinbar unerschütterliches Zutrauen in ihr nüchternes Polit-Management aufzubauen. Die Leute machen sich Sorgen und finden den Euro blöd, meinen beides aber vorläufig nicht bitter ernst. Nicht mal der Umstand, dass die Krise dauert und dauert, kratzt an ihrem Grundvertrauen; vielleicht, weil es einfach der normalen Lebenserfahrung entspricht, dass große Probleme nicht schlagartig zu lösen sind.

Kanzler zählen im Allgemeinen nicht zu denen, die Beliebtheitslisten anführen. Merkel schon.

Bildergalerie: Die EFSF-Abstimmung im Bundestag

Andererseits ist sie die Chefin einer schwarz-gelben Regierungskoalition, die seit Jahr und Tag lustvoll den Eindruck verbreitet, es handele sich bei ihr um einen Irrtum. Nicht, dass sie nicht einiges zustande gebracht hätten.

Doch man muss lange im Dokumentenarchiv des Deutschen Bundestages nachforschen, um schließlich auf das Vierundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Berufsausbildungsförderungsgesetzes zu stoßen, als eins der seltenen Beispiele für ein Vorhaben, das ohne größeres Gezänk zwischen CDU, CSU und FDP über die Bühne gegangen ist – und das vermutlich auch nur, weil es bloß ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzt.

Eigentlich müsste Merkel für all das büßen. Doch die Leute trennen die Berliner Welt – hier der Haufen schwarz-gelber Flöhe, dort die Kanzlerin. Das Kanzleramt erscheint auf dieser politischen Landkarte als exterritoriales Gebiet. Merkel hat gewusst, weshalb sie sich stets weigerte, Machtworte zu sprechen – außer gelegentlich gegen Ursula von der Leyen, die ein bisschen schlecht hört. Generell aber scheint sich Regieren ohne Drama auszuzahlen in dramatischen Zeiten.

Nicht zu regieren scheint auch nicht schädlich zu sein fürs Image. Angesichts dessen, was diese Koalition alles nicht angefasst hat, verbreiten Spötter längst die Lesart, Merkel habe die Taktik der „asymmetrischen Demobilisierung“ einfach vom Wahlkampf ins Regieren übernommen: flaches Profil, der anderen Seite ihre Leib- und Magenthemen sachte entwinden, keine Angriffspunkte bieten. Mindestlohn? Jo, wollen wir eigentlich irgendwie auch.

Bei der Opposition macht sie das alles schier verrückt. Keine Visionen, kein Masterplan, immer nur reagieren, heute tun, was man gestern abgelehnt hat, aber das dann schon wieder „alternativlos“ nennen – sie haben ihr das in jeder Bundestagsdebatte vorgehalten, zornig, spöttisch, mal mit starken Worten und mal mit leisen.

Sie haben oft recht. Es nützt bloß nichts. Die SPD steht demoskopisch da, wo sie seit Jahren immer stand. Die Grünen sind nach dem kurzen Sommer von Fukushima wieder ungefähr dort gelandet, wo sie seit Jahren standen. Und da soll man nicht fatalistisch werden?

Natürlich leugnen sie das Gefühl nach Kräften. Nur sprechen Indizien gegen sie. Bei den Grünen zum Beispiel suchen sie gerade per Urwahl das Spitzen-Duo für den Wahlkampf. An Bewerbern herrscht kein Mangel, 15 Stück, die meisten gänzlich Unbekannte. Man kann das Verfahren sympathisch, ja demokratisch vorbildhaft finden, eine angemessene Reaktion auf die frische Piraten-Konkurrenz, Rückbesinnung auf bürgerbewegte Wurzeln.

Ein wenig unernst wirkt es trotzdem. Als es darauf ankam, hat die Bewegung sich, obgleich murrend, dem Einen und Einzigen, Joschka Fischer, unterworfen. Das kann man, wie gesagt, falsch und unsympathisch finden. Aber es sprach wenigstens der unbedingte Wille zur Macht daraus.

Bei den Sozialdemokraten merkt man die Anstrengung noch deutlicher, sich nichts anmerken zu lassen. Klappt deshalb erst recht nicht. „Wir spielen auf Sieg, nicht auf Platz!“ hat beim SPD-„Zukunftskongress“ der Kanzlerkandidatenkandidat Frank-Walter Steinmeier in den Saal gerufen. Leider ist dies die Beschwörungsformel der Schalker, wenn sie nach Dortmund müssen.

Der Kanzlerkandidatenmitkandidat Peer Steinbrück hat offensiv versucht, sich aus der Klemme zu befreien: Er werde auf keinen Fall noch mal Minister in einem Kabinett Merkel! Man kann das ja sogar gut verstehen; der Mann ist 65 und muss sich nicht mehr alles zumuten. Nur sind Alles-oder- nichts-Erklärungen in Wahlkämpfen immer ein bisschen gefährlich, besonders wenn die Umfragelage weiter hartnäckig in Richtung „Eher nichts“ weisen sollte.

Vermutlich sitzen sie manchmal da, die Troikaner, der Frank-Walter guckt den Peer so halb von der Seite an und sagt, Peer, mach’ du’s doch einfach. Dann seufzt der Peer: Ach, Frank! Nur der Sigmar sagt ausnahmsweise nichts, erstens sicherheitshalber und zweitens, weil er gerade was twittern muss. Der offizielle Standardbegriff für die Stimmung in derlei sozialdemokratischen Runden lautet derzeit „Gelassenheit“. Übersetzt bedeutet er: „Jetzt – bloß – ganz – ruhig bleiben!“

Merkel dominiert und sediert zugleich

Übrigens erklärt sich diese missliche Lage nicht allein dadurch, dass die Euro-Retterin das Feld zugleich dominiert und sediert. Die Kanzlerin der ruhigen Hand und der immer gleichen Sätze profitiert indirekt von jener nervösen Debattenkultur, in der alles zum Aufreger erklärt wird, aber nichts länger als zwei Wochen.

Eine Ex-First-Lady schreibt ein dümmliches Buch? Skandal! Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer? Skandal! Die Talkshow-Welt behandelt das Banale und das Bedeutende mit gleichem Eifer und bügelt beides damit gleichermaßen platt; ihr Kriterium ist Theatralik, nicht Relevanz.

Wie es in diesem Umfeld gelingen könnte, eine ernsthafte alternative Agenda zu entwickeln und in den Köpfen zu verankern, ist ein Rätsel, das zu lösen der Opposition bisher nicht gelungen ist. Vielleicht ist es unlösbar im Zeitalter nach den großen alten Ideologien. Vielleicht ist es auch besonders schwer für diese Opposition. Manchmal reicht ja ein frisches Gesicht als Versprechen.

In die Schlacht aber zieht die Generation der Silberrücken. Für viele wird es die letzte sein. Alle haben schon einmal regiert, was Erfahrung schafft, aber auch Desillusionierung. Das politische Berlin ist infolgedessen umfassend merkelisiert: keine Visionen, nirgends. Peer oder Frank-Walter, Sigmar oder Jürgen, Petra oder Renate – ihre Strahlkraft reicht nicht weiter als bis zu der Behauptung, man werde das meiste ähnlich, wenngleich eventuell im Detail besser machen.

Noch ein Jahr. In der Politik ist das freilich eine lange Zeit. Kriege können ausbrechen, Flüsse über die Ufer treten, Piratenflotten aus dem Nichts am Horizont erscheinen und genauso schnell wieder, vom eigenen Pulverdampf benebelt, auf die Klippen laufen.

Womöglich scheitert Griechenland, aus papiernen Milliardengarantien werden auf einmal deutsche Schulden, in harter Währung abzuzahlen. Vielleicht verpennt die FDP den Moment, ihren Vorsitzenden zu schassen, zieht dann zerstritten in den Kampf oder mit derart gequälter Miene, dass es selbst treuesten Anhängern zu bunt wird.

Im Januar wählt Niedersachsen – Ende offen, Folgen auch. Und was dem Bayern-Horst in seinem Wahlkampf noch alles einfällt, um die eigene Haut zu retten, koste es andere, was es wolle...

Bildergalerie: Merkel lobt Schwarz-Gelb und geht in den Urlaub

In einem Jahr kann sich fast alles verändern in der Politik. Nur die Kanzlerin eher nicht. Wer ihr zugehört hat an jenem Mittwochmorgen, konnte das Grundgerüst ihrer kommenden Wahlkampfreden erkennen. Merkel macht das immer so; sie probiert Formulierungen aus, bei Landtagswahlkämpfen oder eben im Bundestag.

Europa also wird natürlich breiten Raum einnehmen, die 500 Millionen Europäer, die sich nur gemeinsam behaupten könnten in einer Welt der sieben Milliarden Menschen. Das Regierungsbündnis wird am Rande vorkommen als eines, das so übel gar nicht sei. Ja, und die Menschen in diesem Land wird sie preisen. „Uns alle“ wird sie sagen und, jede Wette, „wir“, recht viel „wir“. Schon unter der Reichstagskuppel hat Merkel so geklungen, als ob sie alle 15 Grünen und die drei Roten mühelos mit unter den weiten Mantel nimmt.

So weit ist der Ablauf berechenbar. Nur das Ergebnis ist es nicht. Wie es wirklich aussieht, wenn in einem Jahr um 18 Uhr die großen Fernsehsender die ersten Prognosen verbreiten? Merkel hat vor drei Jahren ebenfalls die Beliebtheitslisten angeführt. Schon damals hat es sich als schwierig erwiesen, die Wähler davon zu überzeugen, dass diese „Christlich Demokratische Union (CDU)“ auf ihren Wahlzetteln in Wirklichkeit bloß eine Abkürzung für Merkel sei – „Chefin der Unionsparteien“ oder so was in der Art.

Die gleiche Trennung zwischen der Kanzlerin hier und den Schwarz-Gelben dort, die ihr so vorteilhafte Beliebtheitswerte verschafft, bewirkte in den Wahlkabinen das Gegenteil. Merkel hätten viele gewählt. Aber ihren Flohzirkus?

In der CDU kennen sie übrigens das Problem, es gibt sogar schon einen theoretischen Begriff für die Lösung: „asymmetrische Mobilisierung“. Nur wie man es praktisch hinkriegen soll, die Wähler der anderen einzuschläfern und diesmal nicht die eigenen gleich mit, darüber zerbrechen sie sich noch die Köpfe.

Gegen andere Unwägbarkeiten hilft selbst Kopfzerbrechen nicht. Sechs Parteien bewerben sich mit Aussicht auf Erfolg für den nächsten Bundestag, sieben, wenn man die CSU mitzählt. Die nächste Koalition zu schmieden, kann höhere Mathematik erfordern. Ein paar Prozente hier, ein paar da – schon ist die FDP draußen, schon sind die Piraten drin.

Ein paar Prozente, und schon steht die Frau, die heute alle Konkurrenten zur Verzweiflung treibt, als Kaiserin ohne Land da. Sie weiß ja übrigens, dass das so kommen kann. Sie wird das Ihre tun, um es zu verhindern. Aber am Ende hilft auch der mächtigsten Frau der Welt nur – nun, nennen wir es: Merkel-Fatalismus.

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