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Syrische Flüchtlinge am Wochenende bei einer Demonstration gegen Sexismus in Würzburg

© Anja Meusel/dpa

Einwanderung: "Mit 300.000 Migranten läge Deutschland zwischen Kanada und den USA"

Der amerikanische Jurist, Historiker und Deutschland-Kenner David Abraham, derzeit Gast der American Academy in Berlin, hält nichts von Obergrenzen. Die Angst vor Migrationschaos könnte aber Integration bremsen, fürchtet er.

Herr Professor Abraham, Sie meinen, dass die massive Zuwanderung das Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutschland in Gefahr bringt. Wieso?  

Ich würde lieber von Solidarität sprechen als von Zusammengehörigkeitsgefühl. Bis vor kurzem funktionierte bei Ihnen eine Art Kompromiss zwischen liberaler Weltanschauung, einer Offenheit für eine plurale Gesellschaft und einem Vertrauen auf die relative Homogenität der Gesellschaft. Die Krise zwischen diesen beiden Auffassungen ist jetzt offen ausgebrochen

David Abraham
David Abraham

© University of Miami

Homogen ist die deutsche Gesellschaft aber schon seit Jahrzehnten nicht mehr, massive Einwanderung gibt es seit den 50er Jahren. 

Es gab die Gastarbeiter, die man allerdings nie als Einwanderer sah, sondern von denen man annahm, sie würden zurückgehen. Später gab es die, die Freizügigkeit innerhalb der EU genossen, und die Kontigentflüchtlinge aus der früheren Sowjetunion. Das war nicht wenig, aber im Verhältnis waren die Zahlen doch niedrig. Und es gab ein großzügiges Asylrecht, als Teil der Vergangenheitsbewältigung und auch der Liberalisierung Deutschlands. Insgesamt wurde dadurch Einwanderung als Prozess mystifiziert. Das Asylrecht wurde aber nie einem Belastungstest bis an seine Grenze unterzogen. Das hat auf der Linken wie auf der Rechten die Illusion erzeugt, dass Integrationspolitik eigentlich nicht nötig sei.

Das allerdings sieht Deutschland seit etwa 15 Jahren anders.

Ja, es gab Fortschritte wie den leichteren Zugang zur Staatsbürgerschaft, alle Reformen nach 1999. Aber jetzt reden wir nicht von 10.000, sondern von einer Million Menschen, die neu kommen. Das bringt ein Land, das sich nie wirklich als Einwanderungsland sah, in eine Krise.

Die wir wie lösen sollten?

Arbeit und Bildung sind große Integrationsfaktoren. Was die Arbeit angeht, passen Angebot und Nachfrage aber nicht mehr wie zu Zeiten der Gastarbeitereinwanderung oder der europäischen Migranten. Andererseits sind die, die jetzt kommen, womöglich das Potenzial für den Osten, wo der langsame Niedergang ja anhält. Ein paar Kilometer außerhalb  lebendiger, florierender Städte wie Leipzig ist Öde. Und auch wenn es eine große Herausforderung ist: Einwanderung und wirtschaftliches Wachstum gehen Hand in Hand. Merkels Wort von der marktkonformen Demokratie war zwar unglücklich, aber zum Glück ist Deutschlands Wirtschaft auch marktgesteuert und stark. Deutliche Schwächen hat dagegen das Schulsystem. 

Können wir uns etwas vom großen Einwanderungsland USA abschauen?

Ich denke schon. Zum Beispiel, dass wirkliche Einwanderungspolitik nicht nur Rosinenpickerei ist. Man kann Gutausgebildete ins Land lassen, aber sie brauchen auch Familienangehörige. Und man muss auch dem Zufall Platz lassen. Der eine ist in Tokio geboren, die andere in Tijuana, das ist nicht gerecht und braucht die Möglichkeit des Ausgleichs. 

Wo sind die Unterschiede? 

Deutschland ist ein Wohlfahrtsstaat, und es ist ein offenes, wenn auch meist beschwiegenes Geheimnis, dass Wohlfahrtsstaaten weltweit in sehr homogenen Gesellschaften entstanden sind. Wenn hier jetzt mit Verweis auf die Flüchtlinge der Mindestlohn unter Beschuss gerät, ist das hochgefährlich. In den USA sind die Gewerkschaften schwach und Arbeitskräfte ohnehin in freier Konkurrenz. Der Abbau des Wohlfahrtsstaats wird leichter durch Zuwanderung. 

Und damit der Abbau von etwas, was oft als Grund für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen - oder wie Sie sagten, ihrer Solidarität - gesehen wird?

Das ist es nicht nur, es ist auch Verfassungspatriotismus, der Sie zusammenhält.

War das nicht eher ein linksliberales Stichwort?

Nein, das war herrschende Meinung. Auch die, die nicht daran glaubten, waren in Wirklichkeit Verfassungspatrioten. Aber den Deutschen ist Sicherheit wichtig und der Aufstieg zum Beispiel der AfD zeigt, wie stark auch so lange nach dem Weltkrieg noch die Angst vor Kontrollverlust ist in Deutschland. Die Zivilgesellschaft und ihr Pluralismus sind ebenso wie Sicherheit eine Errungenschaft Deutschlands seither, aber man sieht gerade, wie zerbrechlich sie ist. Der Fortschritt auf diesem Feld wird aufhören, wenn die Menschen fürchten, dass die Alternative Chaos heißt. Deutschland wird künftig auf einer "two way street" und nicht per Einbahnstraße gestaltet werden, aber Ängste müssen berücksichtigt werden.

Wie ließe sich dem Chaos entgegentreten? Mit den vorgeschlagenen Obergrenzen der Aufnahme?

Merkel hatte Recht, als sie dem entgegentrat. Obergrenzen kann es für Asyl nicht geben. Jeder Fall muss aber einer Einzelprüfung unterzogen werden. Und: Eine plurale Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Integration ein stetiger Prozess ist. Dafür könnte ich mir jährlich 300.000 Migranten vorstellen. Damit läge Deutschland, gemessen an der Bevölkerungszahl, zwischen Kanada und den USA. Das ist jetzt natürlich nicht mehr das Thema angesichts der mehr als dreifachen Zahl. Die Leute sind bereits da. Aber Merkel hatte auch Recht, als sie sagte: Deutschland ist stark. Wer alles versagt hat in der Flüchtlingsfrage, darüber habe ich noch gar nicht gesprochen.

Sie meinen die EU-Staaten, die niemanden aufnehmen?

Die meine ich, aber auch UNHCR…

…das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Das allerdings von Spenden der UN-Mitgliedsstaaten abhängt und im vergangenen Herbst Alarm schlug, weil nicht annähernd das Geld eingegangen war, das sie brauchten.

Erfolg hat viele Eltern, der Misserfolg ist ein Waisenkind. Sicher haben die Spender schuld, aber der UNHCR müsste sich um große Gegenden kümmern, in denen Flüchtlinge Schutz brauchen, in Irak, der Türkei, aber auch in Syrien selbst.

Kommen wir noch einmal auf Ihre Heimat zurück. Während Sie die Deutschen immer noch für etwas ungeübt in Einwanderungsfragen halten, haben die USA viel und lange Übung. Aber auch hier scheint der Konsens zu bröseln. Weshalb sonst konnte der Donald Trump mit seinen Ausfällen gegen Migranten solchen Erfolg haben?

Das hat auch mit der tiefen Krise der Republikaner zu tun. Das Bündnis zwischen dem soziokulturellen und dem Wirtschaftskonservatismus ist zerbrochen, die Leute, denen man in der Krise die Häuser weggenommen hat, die wollen von Wirtschaftswachstum nichts mehr hören. Die glauben nicht mehr an konservative Formeln und sind stattdessen anfällig für den Glauben an Sündenböcke. Dass Mexikaner das Verbrechen ins Land einschleppen, gehört dazu.  Das Phänomen Trump erklärt sich aber für meine Begriffe auch aus dieser langen Vorwahlzeit. Wir sind im Zirkus. Trump ist einfach gute Unterhaltung. Ich kann mich aber auch täuschen. Wer weiß, wie die Dinge in ein paar Monaten aussehen.

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