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EU-Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska.

© REUTERS

EU-Binnenmarktstrategie: Kehrseite der Freiheit

Die EU-Kommission plant mehr Wettbewerb unter Europas Freiberuflern. Ingenieure und Architekten in Deutschland sind alarmiert.

Vor ein paar Tagen hat Jyrki Katainen in Brüssel wieder das F-Wort benutzt. Man müsse „flexibilisieren“, sagte der für Wachstum und Arbeitsplätze zuständige EU-Vizekommissionschef. Was er damit meinte, veranschaulichte Katainen an einem Beispiel: Wer in der EU von Berufs wegen anderen Leute die Haare schneidet, kann das – je nach Mitgliedstaat – entweder ganz ohne Ausbildung tun oder muss mindestens eine dreijährige Lehre nachweisen.

Wenn Katainen in diesem Zusammenhang von „Flexibilisierung“ spricht, dann meint der Finne damit eine Lockerung beim Zugang und der Organisationsstruktur der freien Berufe – Bauingenieure, Architekten, Buchprüfer, Rechtsanwälte, Immobilienmakler, Fremdenführer und Patentanwälte. Sie alle werden in einer Binnenmarktstrategie erwähnt, die die zuständige Kommissarin Elzbieta Bienkowska Ende Oktober in Brüssel vorstellte. Nach dem Willen der Kommission soll „der Zugang zu reglementierten Berufen und deren Ausübung auf nationaler Ebene und EU-weit verbessert werden“.

Im Klartext bedeutet das, dass die Kommission die lange Liste der reglementierten Berufe in der EU – 5000 gibt es insgesamt – durchforsten und einen leichteren Zugang für Mitbewerber aus dem EU-Ausland ermöglichen will. „Wir erwarten, dass die Zahl der reglementierten Berufe sinkt“, sagte Bienkowska in der vergangenen Woche in Berlin.

EU-Kommissarin Bienkowska geht gegen deutsche Mindestpreise vor

In ihrem Kampf für mehr Wettbewerb unter den Freiberuflern verfügt die EU-Kommission über ein scharfes Schwert – das Vertragsverletzungsverfahren, bei dem gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof (EuGH) einen Mitgliedstaat verurteilen kann, weil er gegen EU-Recht verstößt. Ein solches Verfahren leitete die Kommission im Juni gegen mehrere EU-Staaten ein. EU-Binnenmarktkommissarin Bienkowska forderte dabei unter anderem, die verbindlichen Mindestpreise von Architekten, Ingenieuren und Steuerberatern in Deutschland aufzuheben. Ins Visier der Kommission gerieten dabei die Mindestsätze in der deutschen Honorarordnung für Architekten und Ingenieure. Die Preise stehen in Brüssel im Verdacht, ausländische Mitbewerber auf dem deutschen Markt zu diskriminieren. „Durch einen dynamischen Binnenmarkt für freiberufliche Dienstleistungen wird die europäische Wirtschaft wettbewerbsfähiger, und davon profitieren wir alle“, verteidigte Bienkowska damals ihren Vorstoß.

Das sieht Barbara Ettinger-Brinckmann, die Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, anders. Bei dem Vertragsverletzungsverfahren gehe die Kommission pauschal davon aus, dass Regulierungen von Berufen ein Hindernis im Markt sind. „Damit geraten das so bedeutende Element des Verbraucherschutzes, Qualitätssicherung und volkswirtschaftliches Denken aus dem Fokus“, kritisiert sie.

Mit der jüngst präsentierten Strategie erhöht die EU-Kommissarin nun noch einmal den Druck auf die reglementierten Berufe in der EU. Bis zum kommenden Januar, so lautet der Plan, sollen die EU-Mitgliedstaaten im Zuge einer sogenannten Transparenzinitiative gegenüber der Brüsseler Behörde mitteilen, wo die Regelungen bei den freien Berufen eventuell gelockert werden können. Auf dieser Basis will die Kommission dann im Verlauf des kommenden Jahres Vorschläge zur Liberalisierung machen.

Bundesverband der Freien Berufe hält Brüsseler Strategie für verfehlt

Doch bei den betroffenen Berufsverbänden regt sich Widerstand gegen den Brüsseler Kurs. Die neue Binnenmarktstrategie zeige, dass die Tonart in Brüssel schärfer werde, sagt der Präsident des Bundesverbandes der Freien Berufe, Horst Vinken. Wenn die Kommission den Preis einer Leistung höher bewerte als deren Qualität, „ist dies ökonomisch falsch“. Die Regulierung bei den freien Berufen, die sich seit Jahrzehnten bewährt habe, sei „kein Selbstzweck, sondern dient dem Verbraucher“. Nach den Worten von Vinken sind die freien Berufe in Deutschland auch ohne das Zutun der EU-Kommission ein Beschäftigungsmotor: Als Arbeitgeber beschäftigen hierzulande rund 1,3 Millionen selbstständige Freiberufler weit mehr als 3,4 Millionen Mitarbeiter – darunter rund 122 000 Auszubildende. „Gemeinsam erwirtschaften sie einen Jahresumsatz von rund 381 Milliarden Euro und steuern somit 10,1 Prozent oder jeden zehnten Euro zum Bruttoinlandsprodukt bei“, bilanziert Vinken.

Auch Arno Metzler, Hauptgeschäftsführer des Verbands Beratender Ingenieure, stört sich daran, dass die Kommission eine Haltung vertrete, der zufolge allein die Deregulierung ein Wachstumstreiber sei. Die Kommission habe sich in diese Idee „verbissen“, urteilt Metzler, der mit den Brüsseler Entscheidungsabläufen gut vertraut ist: Im Wirtschafts- und Sozialausschuss der EU, einem Brüsseler Beratungsgremium, spricht er als deutscher Vertreter für die freien Berufe. Dass die EU-Kommissarin Bienkowska an den gesetzlichen Mindestpreisen bei Ingenieuren, Architekten und Steuerberatern rüttelt, hält Metzler für nicht gerechtfertigt. Im privaten Bereich hat nach seinen Worten die Preisordnung eine viel geringere Bedeutung, als die Kommission annehme. Und bei öffentlichen Auftragsvergaben dienten die Mindestpreise dazu, kleine und mittlere Unternehmen vor Wettbewerbern mit Dumping-Angeboten zu schützen. Auch den Verdacht der Kommission, dass die Zugangsvoraussetzungen für den Ingenieurberuf in Deutschland Bewerber aus dem EU-Ausland vom Markt verdrängen, hält er für verfehlt: Es gebe keinen Grund, die in Deutschland existierenden Ingenieurkammern nur deshalb anzutasten, weil es nicht in allen EU-Ländern vergleichbare Körperschaften gebe.

Schützenhilfe erhalten Interessenvertreter wie Metzler aus der Politik. So ist der CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab der Auffassung, dass es zwar zu begrüßen sei, wenn die Kommission angesichts des drohenden Fachkräftemangels die Mobilität in der EU verbessern wolle. Allerdings warnt auch Schwab davor, „bewährte und gut funktionierende Strukturen zu zerstören“.

DIHK warnt vor Übernahme von Anwaltsgesellschaften

Vergleichsweise entspannt blicken derweil die Anwälte in Deutschland auf die Initiative aus Brüssel. Während es unter den Anwälten in Deutschland vor 30 Jahren noch „Restbestände des Zunftrechts“ gegeben habe, sei das Berufsrecht inzwischen „stark liberalisiert“, sagt Cord Brügmann, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins. Allerdings sieht Stephan Wernicke, der Chefjustiziar des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), die Deregulierung im Bereich der Anwälte auch mit Sorge. „Es darf nicht dazu kommen, dass Anwaltsgesellschaften künftig zu Investitionsobjekten für Finanzinvestoren werden“, sagt er. Wernicke verweist darauf, dass das in Deutschland geltende Fremdbesitzverbot den Einstieg von branchenfremden Investoren verhindert. „Dieses Prinzip muss auch in Zukunft gelten“, fordert der Jurist.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 10. November 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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