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Demonstranten in Italien mit Masken von Angela Merkel und Mario Draghi.

© AFP

Europa in der Krise: Mario und die Zauberer

Die Franzosen streiken, Großbritannien zerfällt und die Deutschen haben keine Armee mehr. Europa kann nicht mehr, will aber. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Vergangene Woche beschrieb der Manager der britischen Warenhauskette „John Lewis“ Frankreich als „sklerotisch, hoffnungslos, deprimierend“ und empfahl allen, die dort Geschäfte machen, sich aus Frankreich schleunigst zurückzuziehen. Erstaunlich daran war nicht, dass Andy Street seine Bemerkungen kurz darauf als Scherz abtat und sich entschuldigte. Sondern dass jemand aus einem Land, in dem über Jahre hinweg Kinderschänder gedeckt wurden (bei der BBC und auch in der Verwaltung in der nordenglischen Stadt Rotherham), in dem Journalisten private Handys hacken und die Gespräche ausschlachten, in einem Land, das ein Riesenproblem mit gewaltbereiten dschihadistischen Jugendlichen hat und das nur in letzter Not der historischen Spaltung entgangen ist, dass gerade ein Brite denkt, mit dem Finger auf andere zeigen zu können.

Recht hat er trotzdem. Frankreich steckt in der Krise. Und Großbritannien auch. In Europa kann in diesen Tagen fast jeder auf jeden mit dem Finger zeigen.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe hat einmal darauf hingewiesen, dass die Nachkriegsdemokratien das Ziel verfolgt haben, die Bevölkerung vor großen Einbrüchen zu schützen: „Wegen der Angst, Zustimmung zu verlieren, muss die Politik eben immer wieder die Risiken der Wirtschaft ausgleichen.“ Wer Risiken an die Bevölkerung weiterleitet, wird abgewählt. Und deshalb ist die französische Regierung auch vor den streikenden Air-France-Piloten und ihren Forderungen eingeknickt. Und deshalb versucht der Chef der Europäischen Zentralbank mit immer wilderen Mitteln, in der europäischen Verschuldungskrise Zeit zu gewinnen – ohne dass diese Zeit sinnvoll genutzt würde. Die Krise wird durch Mario Draghis vermeintlich schmerzfreie Geldpolitik lediglich gestreckt, nicht gelöst.

Die Europäische Union hat dieses Versprechen übernommen, die Risiken, die von der Welt ausgehen, ausgleichen zu können. Mehr politische Einheit bedeutet in dieser Theorie mehr Wohlstand, mehr Zentralismus bedeutet mehr Sicherheit. Die neue EU-Kommission von Jean-Claude Juncker will die nationalen Regierungen in den nächsten Jahren nun stärker auf ihre Empfehlungen verpflichten, sie will auch das Staatsdefizit der Franzosen nicht länger hinnehmen. Vielleicht wird Brüssel die französischen Piloten ja in Zukunft überreden können, nicht mehr zu streiken. Wahrscheinlich ist das nicht.

Niemand will, dass sich köpfende Fanatiker ausbreiten

Die Krise Europas wird immer wieder als eine politische und ökonomische beschrieben, weil dann die EU und ihre Institutionen als Lösung ins Spiel gebracht werden können. Doch andere Strukturen und selbst eine stärkere Umverteilung von den reichen zu den armen Ländern gehen am Kern des Problems vorbei. Die Air-France- Piloten, die unzufriedenen Schotten, die deutschen Rentner mit 63 – sie alle sind Ausdruck eines europäischen Mentalitätsproblems.

Niemand will, dass köpfende Fanatiker sich weiter ausbreiten; niemand will, dass postimperiale Diktatoren sich Nachbarländer unter den Nagel reißen; niemand will, dass eine Seuche wie Ebola sich in Europa ausbreitet. Die Ängste sind konkret. Die Lösungen sind auch konkret – aber die will keiner. Die Franzosen streiken, obwohl sie damit ihre eigene Fluggesellschaft zugrunde richten. Die Engländer grenzen sich von Europa ab, fallen aber selbst sozial und geografisch völlig auseinander. Die Deutschen wollen eine billige Berufsbundeswehr, die gleichzeitig erfolgreich Krieg gegen Islamisten führen kann. Darin ist sich Europa einig: Alle wollen nehmen, ohne dass es sie etwas kostet.

Dass der IS einen Westler nach dem anderen köpft und David Cameron nichts anderes übrig bleibt, als öffentlich Rache zu fordern, ist Ausdruck der neuen Wehrlosigkeit in Europa, die ebenso zu spüren ist, wenn Angela Merkel zwar mit Wladimir Putin telefoniert, seinen Vormarsch aber trotzdem nicht aufhalten kann, und wenn Draghi die nächsten Maßnahmen zur Euro-Rettung ankündigt.

Der miserable Zustand der Bundeswehr ist das jüngste Symbol: Die Stärke der anderen ist vor allem Folge der ökonomischen und militärischen Schwäche eines Europa, das über seine Verhältnisse lebt, aber nicht mehr die Kraft hat, sich das einzugestehen.

Geld auszugeben, das man nicht hat, Sicherheit zu fordern, ohne selbst etwas dafür zu tun, politische Versprechungen zu machen, von denen man weiß, dass man sie nicht halten kann – das Mentalitätsproblem der Europäer liegt darin, dass sie denken, mit diesen Widersprüchen weiter gut leben zu können.

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