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"Historische Bewährungsprobe" für Europa. Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag

© Kay Nietfeld/dpa

Europa und die Flüchtlinge: Angela Merkel setzt großes Vertrauen in die Türkei

Vom "Wir schaffen das" rückt die Bundeskanzlerin nicht explizit ab. Aber im Vordergrund steht für sie nun eine spürbare Reduzierung der Flüchtlingszahl.

Von Matthias Meisner

"Immer noch richtig" sei das von Angela Merkel vorgestellte Konzept zur Lösung der Flüchtlingskrise, sagt Thomas Oppermann. Der SPD-Fraktionschef kann das vor dem Hintergrund sagen, dass die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch im Bundestag nichts gesagt hat, was für Zündstoff in der Koalition sorgen könnte. Union und SPD setzen unisono auf die Türkei als Partner - und auf eine deutliche Reduzierung der Zahl der Asylsuchenden in Deutschland. "Wir brauchen Zeit zum Durchatmen", wie es Oppermann mit Blick auf die hohe Zahl von Asylsuchenden formuliert.

Knapp eine halbe Stunde lang hat Merkel gesprochen. Erst ausführlich über einen drohenden Brexit, mit freundlichen Worten an den britischen Premier David Cameron, dessen Anliegen sie in vielen Punkten als "berechtigt und nachvollziehbar" ansieht. Merkel will das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU vermeiden. Sie will überhaupt ganz generell den Zusammenhalt Europas. In ihren Worten: "Unser gemeinsames Ziel ist es, die Zahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig zu reduzieren, um so auch weiter den Menschen helfen zu können, die unseres Schutzes bedürfen."

Es ist kein explizites Abrücken vom "Wir schaffen das". Aber wenn Merkel gleich zu Beginn sagt, dass die Fluchtbewegung Europa "vor eine historische Bewährungsprobe stellt", setzt sie durchaus andere Akzente. Es geht jetzt mehr um Grenzen, um die Sicherung der EU-Außengrenze gleich an den Seegrenzen von Griechenland - damit die Flüchtlinge ohne Einreiseerlaubnis gar nicht erst bis zur Grenze von Griechenland nach Mazedonien beziehungsweise Bulgarien kommen.

Merkel: "Wir müssen lernen, auch maritime Grenzen zu schützen"

Das soll gehen mit Hilfe von Frontex, aber eben auch in enger Kooperation mit Ankara. "Wir müssen lernen, als EU auch maritime Grenzen zu schützen", sagt die Kanzlerin. Sie vermeidet scharfe Kritik an der türkischen Regierung. Zwar erwähnt sie Einschränkungen der Pressefreiheit, den Umgang mit den Kurden und die unsicheren Perspektiven für die Jugend im Land am Bosporus. Aber sie äußert eben auch deutliches Lob für die Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern, die inzwischen zweieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen habe. Und erwähnt etwa die Grenzstadt Kilis zu Nordsyrien, in der mehr Flüchtlinge als Einwohner leben würden. Abstrakt spricht Merkel davon, dass die Lebenssituation der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens, der Türkei und dem Libanon also, verbessert werden müsse - wie das konkret geschehen soll, bleibt weitgehend offen.

Offen ist auch, wie genau die legale Aufnahme von Flüchtlingen in der EU geregelt wird. Aus Sicht Merkels sollen die Kontingente zur Verteilung von Flüchtlingen beim Europäischen Rat an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel kein Thema sein. Die EU würde sich "lächerlich" machen, wenn sie darüber diskutiere, solange die bereits vereinbarte Verteilung von 160.000 Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten "noch nicht einmal ansatzweise" gelungen sei. Es ist eine diplomatische Bewertung für das, was später Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht in ihrer Erwiderung eine "breite Koalition der Unwilligen" nennen wird.

Wagenknecht: "EU Synonym für Zwietracht, Krise und Zerfall"

Ob die auch von der SPD geforderten Kontingente ermöglichen, dass Flüchtlinge künftig "legal und sicher" nach Europa kommen? SPD-Fraktionschef Oppermann behauptet das. Wagenknecht als Oppositionsführerin hingegen prangert in deutlichen Worten an, dass die EU zum Synonym für "Zwietracht, Krise und Verfall" geworden sei. Von einem "europäischen Scherbenhaufen" spricht sie und davon, dass der Zulauf für nationalistische Parteien in vielen Ländern erschreckend, aber nicht überraschend sei.

Das Vertrauen der Bundesregierung in den türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan kann Wagenknecht nicht nachvollziehen. Für sie ist er "Terrorpate", "unberechenbar" und "personifizierte Fluchtursache", verantwortlich für die "Verwandlung der Türkei in ein Terrorgefängnis". Ähnlich schlimm findet die Linke-Politikerin nur die "saudische Kopf-ab-Diktatur", die von Deutschland ebenfalls und umworben und hofiert werde.

Die Abgeordneten der Union gewähren Merkel am Ende ihrer Regierungserklärung demonstrativen Applaus, viel Beifall bekommt sie auch aus der SPD. CSU-Chef Horst Seehofer hat schon vor der Debatte im Parlament in München erklärt: "Jetzt hat eine Regierungschefin die faire Chance verdient, die Dinge in Europa zu diskutieren und zu verhandeln."

Auch von Hinterbänklern aus der Unionsfraktion, die im Vorfeld noch "substanzielle Kritik" an der "Unantastbaren" kundgetan hatten (so die Formulierung der sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten Veronika Bellmann) ist einstweilen nichts zu vernehmen. Es sieht so aus, als ob zumindest die Mitglieder der Regierungsfraktionen der etwas angeschlagenen Regierungschefin das gönnen wollen, was Oppermann insgesamt in der Diskussion gefordert hat: Zeit zum Durchatmen. Lange muss das nicht gelten.

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