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Nach der Flucht. Beratungsgespräch mit Asylsuchenden am Hafen.

© Donata Hasselmann

Flüchtlinge in Europa: „Es bleibt ein Gefühl der Ohnmacht“

Vom Versuch, Rechtslücken zu schließen: Die Asylberaterin Donata Hasselmann berichtet von ihren Erfahrungen auf der griechischen Insel Chios.

Auf Chios zu arbeiten ist schön und furchtbar zugleich. Schön, weil man Menschen aus aller Welt kennenlernen und ihre Geschichten und Sprachen teilen darf. Furchtbar, weil man täglich sieht, was europäische Flüchtlingspolitik bedeutet – für die Menschen, die sowieso schon das Unglück erleiden, fliehen zu müssen. Ganz am Rande Europas werden sie auf Inseln festgehalten. Dort sind sie einem Verfahren unterworfen, das sich so oft und intransparent ändert, dass auch griechische Anwälte es kaum verstehen. Um die Menschen über ihre Rechte aufzuklären, sind wir hier.

Um acht Uhr morgens fahren wir auf Fahrrädern vom Hostel zum Flüchtlingscamp Souda. Hier müssen 800 Menschen leben. Das Lager liegt am Hafen, man kann die Türkei von hier aus sehen. Die Menschen, die wir treffen, kommen aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan. Ihr Fluchtweg führte durch die Türkei. Was sie mir von dort berichten, ist unglaublich traurig. So wie die Geschichte von Zahra.

Um ihren Fall zu besprechen, suchen wir uns einen ruhigen Platz am Hafen – Beratungsräume gibt es nicht. Zahra ist 27 Jahre alt und kommt aus Syrien. Ihr Mann wurde getötet, als er den Wehrdienst verweigerte, berichtet sie, ihr Haus ist von Bomben zerstört. Aus Angst, dass man auch sie tötet, flüchtete Zahra in die Türkei.

Die türkische Grenzwache schoss auf die Fliehenden

An der Grenze sei ihr das passiert, was uns viele Syrer berichten: Die türkische Grenzwache habe auf sie und ihre Mitfliehenden geschossen, um sie vom Grenzübertritt abzuhalten. Ein Mann aus Zahras Gruppe sei getötet worden. Sie selbst schaffte es über die Grenze. Die türkische Polizei verhaftete sie, zwei Tage lang war sie mit 20 anderen Geflüchteten im Gefängnis. Die Mitarbeiter dort schlugen sie und drohten, sie nach Syrien zurückzuschicken. Zahra täuschte eine Krankheit vor, kam ins Krankenhaus, sprang aus dem Fenster und floh.

Da die EU ihre Landgrenzen, zum Beispiel die von Bulgarien und Griechenland mit der Türkei, für Flüchtlinge geschlossen hat, musste Zahra auf dem Seeweg flüchten.

Ich erkläre ihr, dass die EU im März 2016 entschieden hat, dass die Türkei ein „sicherer Drittstaat“ ist. Dass Asylsuchende, die aus der Türkei in Griechenland ankommen, zurück in die Türkei gebracht werden können – ohne, dass man ihr Asylgesuch prüft. Zahra ist fassungslos. „Glaubt ihr wirklich“, sagt sie, „dass wir uns, mit Kindern und Babys, freiwillig zu vierzigst in ein Schlauchboot setzen und die lebensgefährliche Überfahrt wagen würden, wenn die Türkei für uns sicher wäre?“

Für uns ist das ein typischer und ein schwerer Moment in der Beratung: Wie erklärt man, dass die EU die Türkei als „sicher“ einstuft, wenn dort solche Dinge passieren? Zuerst erkläre ich dann meine Rolle – dass ich den EU-Türkei-Deal auch furchtbar finde, dass ich versuchen werde, sie bestmöglich auf ihre Anhörung vorzubereiten.

Gemeinsam gehen wir Zahras Fluchtgeschichte durch. In ihrer ersten Anhörung ist es wichtig, dass sie von ihren Misshandlungen durch die türkische Polizei erzählt. Denn wer nachweisen kann, in der Türkei nicht sicher zu sein, darf bleiben und seinen Asylantrag in Griechenland stellen. Andere Geflüchtete, die durch die Türkei kamen, berichten von Verhaftung, Folter, Willkür, mangelndem Zugang zu Arbeit und Gesundheitseinrichtungen, Diskriminierung, Verweigerung der Möglichkeit, Asyl zu beantragen oder Verfolgung durch organisierte Kriminelle.

Es fehlen Dolmetscher

Für die Asylsuchenden ist es schwer zu verstehen, warum sie eine Anhörung über die Türkei haben und nicht über ihre Fluchtgründe und ihre Herkunftsländer. Den meisten ist gar nicht erst bewusst, dass es in ihren Anhörungen um die Türkei geht. Viele trauen sich auch nicht, über ihre Erfahrungen dort zu berichten. Die fehlende Aufklärung darüber ist unserer Meinung nach die größte Rechtslücke. Mit unserer Arbeit versuchen wir, sie zu schließen.

Aber das ist leider nicht das Einzige, was hier schiefläuft. Die Anhörungen müssten eigentlich in absolut privaten Räumen geführt werden. Tatsächlich haben aber immer mehrere Leute gleichzeitig ihre Anhörungen, getrennt durch halbhohe, dünne Plastikwände. Es gibt nicht genug Dolmetscher. Manchmal werden die Menschen überredet, die Anhörung auf Englisch zu machen, obwohl sie schlechtes Englisch sprechen – eine unglaubliche Rechtsverletzung, wenn man bedenkt, wie wichtig die Anhörung für die Zukunft der Leute ist.

Eigentlich kann ich hier jeden Tag recht gut durcharbeiten. Es gibt viel zu tun, man kann viel bewirken, trifft tolle Leute. Abends kommt in melancholischer Hafenstimmung aber regelmäßig die große Traurigkeit. An der Oberfläche lässt sie sich verdrängen, mit gemeinsamem Kochen, Spaziergängen mit Leuten aus dem Camp, den nächtlichen Teambesprechungen.

Aber die Fragen bleiben: Wie kann es sein, dass Menschen so viel Schlechtes erleiden müssen und es so wenig Solidarität mit ihnen gibt? Warum werden Skandale nur aufgearbeitet, wenn ein Flüchtling sie heimlich mit dem Handy filmt: dass hier auf Chios Menschen bei ihrer Ankunft in Käfige gesteckt werden? Menschen, die in Syrien in Kerkern eingesperrt waren und vom IS gefoltert wurden, müssen hier im Camp in unsicheren, unstabilen, unbehüteten Zuständen alleine vor sich hin leben, anstatt zu einem nahestehenden Menschen in der EU weiterreisen zu können.

Als Rechtsberater können wir dagegen kaum etwas tun. Es bleibt ein Gefühl der Ohnmacht. Und der Ungerechtigkeit: Was für ein Zufall, dass ich im reichen Deutschland geboren bin, hier in Griechenland Beratung anbieten und dann wieder nach Berlin fliegen kann.

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