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Sicherer Hafen. Seit Anfang des Jahres sind mehr als 13.400 Flüchtlinge nach Italien gekommen.

© Anke Trojan

Flüchtlinge: Schicksalsroute Libyen - Sizilien

Vergewaltigungen, Prügel, willkürliche Haft: Wer es als Flüchtling über Libyen nach Sizilien schafft, berichtet von furchtbaren Erlebnissen. Ein Bericht aus Catania.

Am Freitagabend verbreitet sich das Gerücht, dass am nächsten Morgen bis zu 600 Menschen in Catania, der zweitgrößten Stadt Siziliens, ankommen werden – darunter mehr als 100 minderjährige Flüchtlinge. Alle werden über Libyen nach Europa gereist sein, und viele von ihnen werden auffallend ähnliche Geschichten erzählen, über Schläge, Vergewaltigung, Erpressung in einem faktisch gescheiterten Staat.

Mitte Januar. Es ist ungewöhnlich kalt und regnerisch. Doch das ist unwichtig: Allein an diesem Wochenende werden fast 2000 Flüchtlinge aus dem Meer geborgen und nach Sizilien gebracht werden. Ein halbes Dutzend von ihnen in weißen Plastiksäcken oder Särgen. Ein Imam und ein katholischer Priester werden in Messina für sie beten, während ihre Verwandten – trotz Wärmedecken vor Kälte zitternd – ihren Verlust beklagen.

Seit Jahresbeginn kamen mindestens 440 Menschen auf dieser Flüchtlingsroute ums Leben, 2016 waren es im gleichen Zeitraum „nur“ 97. Mit dem EU-Türkei-Abkommen ist die zentrale Mittelmeerroute wieder zur meist genutzten Flüchtlingsroute geworden. Seit Januar sind bereits mehr als 13 400 Flüchtlinge in Italien angekommen, 9000 waren es im gleichen Zeitraum 2016 – einem Rekordjahr. Die meisten fliehen vor Krieg, Verfolgung und extremer Armut. Andere haben auf der Suche nach Arbeit zunächst jahrelang in Libyen gelebt, bis die Zustände dort unerträglich wurden.

Libyen steht im Zentrum einer Diskussion darüber, wie man die zentrale Mittelmeerroute abriegeln kann. Beim Gipfel in Malta einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs darauf, ihre Zusammenarbeit mit Libyen zu intensivieren, etwa über Ausbildungsmissionen für die Küstenwache des Landes oder Auffanglager.

Von mehreren Männern vergewaltigt

Doch Kritiker stellen die Frage, wie sehr Europa überhaupt auf Libyen setzen könne – und zu welchem Preis. „Zu Recht kritisieren wir Trump für seine Mauer. Aber sind wir so viel besser?“, fragt Barbara Lochbihler, außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. „Die Grenze zur Türkei ist dicht, mit Libyen streben wir Ähnliches an, und wir verhandeln mit Dutzenden weiteren Ländern über noch mehr Flüchtlingsabwehr, noch mehr Abschottung. Die tödlichste Grenze weltweit ist und bleibt das Mittelmeer. Das sollten wir nie vergessen“, sagt Lochbihler. Den EU-Mitgliedstaaten gehe es nur darum, möglichst viele Flüchtlinge von europäischem Boden fernzuhalten und möglichst viele wieder abzuschieben. Das sei die falsche Priorität, insbesondere mit Blick auf Länder wie Libyen. „Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken, käme schlichtweg einem Bruch internationalen Völkerrechts gleich“, sagt die Grünen-Politikerin.

Schutzsuchend. John Oriaifo aus Niger bei der Messe in Catania.
Schutzsuchend. John Oriaifo aus Niger bei der Messe in Catania.

© Anke Trojan

In einem internen Bericht an das Auswärtige Amt (AA) sprach der deutsche Botschafter in Niger im Januar von „KZ-ähnlichen Verhältnissen“ in Libyen. In vielen libyschen Flüchtlingslagern würden „allerschwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen“ begangen. „Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung“, zitierte die „Welt am Sonntag“ aus dem Bericht, den das AA nicht kommentieren will.

Eine 27-jährige Frau aus Kamerun erzählt in Catania davon, wie sie in Libyen entführt und immer wieder von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Nach acht Monaten sei ihr die Flucht gelungen, Schlepper hätten sie nach Italien gebracht, wo sie Asyl bekam. Doch vergessen kann sie die Schrecken nicht. Vergewaltigungen passieren so häufig, dass Frauen inzwischen Verhütungspillen nehmen, bevor sie sich auf die Reise begeben, um nicht schwanger zu werden.

Der libyschen Küstenwache wird vorgeworfen, Flüchtlinge zu schlagen, ihnen mit dem Tod zu drohen und Hilfe zu verweigern, wenn sie auf offener See auf Boote stoßen. Für Flüchtlinge wie John Oriaifo, ein Nigerianer in Catania, ist Libyen die Hölle auf Erden. Vor drei Jahren hatte sich der heute 21-Jährige entschlossen, nach Libyen zu gehen, nachdem seine Mutter und seine Schwester bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren, als sie gerade Waren auf dem Markt verkauften. Immer wieder bombardiert die islamistische Boko Haram Ziele in der Region. Oriaifo erzählt von seiner Wut, alles verloren zu haben, und wie er damals entschied, sich einem Freund anzuschließen, der einen Onkel in Libyens Hauptstadt Tripolis hatte. Der Onkel habe als Klempner gutes Geld verdient und ein Auto besessen. Eine Weile ging alles gut, Oriaifo und sein Freund konnten bei dem Onkel arbeiten. Eines Tages wurden sie von einer Gang mit Messern attackiert und gefangen genommen. „Sie wollten uns erpressen, doch wir sagten, wir hätten kein Geld.“ Zusammen mit sechs anderen wurden sie in einem Raum festgehalten und zur Arbeit gezwungen. „Die Schläge wurden unerträglich, wir machten Pläne, wie wir entkommen könnten.“ Zwei Monate später gelang ihnen die Flucht durch ein Fenster, ein Imam half ihnen anschließend, das Land zu verlassen. Gemeinsam mit sechs anderen in einem kleinen Schlauchboot.

Die EU steht unter Druck

Oriaifos Erlebnisse sind keine Seltenheit. Viele der von Amnesty International Interviewten erzählen von Entführungen mit dem Ziel, von Verwandten Lösegeld zu erpressen. Andere berichten von willkürlichen Verhaftungen und völlig überfüllten Gefängnissen, in denen es weder Registrierungen noch Zugang zu Anwälten gibt.

„Die EU steht offenbar unter großem Druck, schnelle Erfolge vorzuweisen, etwa dass die Zahl der Flüchtlinge zurückgehe“, sagt Susan Fratzke vom Migration Policy Institute in Washington. Doch dieses Vorgehen gefährde langfristige Erfolge. Mit dem wärmeren Wetter wird die Zahl der Flüchtlinge ansteigen. Ob die beschlossenen Maßnahmen überhaupt Auswirkungen auf die Zahl der Menschen haben, die flüchten, sei fraglich, sagt Fratzke. „Schlepper sind unendlich anpassungsfähig, ich bin mir sicher, dass sie sich schnell anpassen werden“ und andere Routen finden, sagt die Expertin.

Und die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge steigt, die meisten von ihnen sind ohne ihre Eltern unterwegs. Rund 28 000 von ihnen sind im vergangenen Jahr in Italien angekommen, 2015 waren es 16 500.

Die Europäer haben viel Geld zugesagt, um die Entwicklung in Afrika zu verbessern, auf schnellere Abschiebungen gedrängt und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen Europa und Nordafrika betont – nur um die Menschen davon abzuhalten, sich überhaupt auf die Flucht zu begeben.

Es sei richtig, nachhaltige Entwicklung und Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung zu fördern, sagt die Europapolitikerin Lochbihler. „Es wäre aber naiv, zu glauben, dass sich allein durch Entwicklungszusammenarbeit in Ländern wie Libyen oder selbst Tunesien schnelle und lineare Erfolge erzielen lassen. Umso weniger, als wir nicht bereit zu sein scheinen, unsere eigene Politik in Bereichen wie Handel, Landwirtschaft, Fischerei zu überdenken.“ Außerdem sei selbst die schnellste wirtschaftliche Entwicklung nicht in der Lage, den Krieg in Syrien zu beenden, das Regime in Eritrea zu stürzen oder die Taliban verschwinden zu lassen, sagt Lochbihler. „Menschen werden weiterhin fliehen, und sie werden stets ein Recht auf Asyl haben – auch in Europa.“

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Juliane Schäuble.

Perla Trevizo

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