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Mehr als 130.000 syrischen Flüchtlinge befinden sich derzeit in der Südtürkei. Von ihnen werden rund 95.000 in Flüchtlingslagern versorgt, wie in diesem hier in Hatay.

© dpa

Flüchtlingspolitik: Türkei gibt sich erstmals Asylgesetz

Fast 30.000 Asylanträge hatte die Türkei in diesem Jahr zu verzeichnen. Bislang gab es aber noch kein Asylgesetz. Das soll sich jetzt ändern.

Asyl hat eine lange Tradition in der Türkei. Schon im 15. Jahrhundert fanden zehntausende sephardische Juden dort Zuflucht vor der Spanischen Inquisition, im 19. Jahrhundert flüchteten hunderttausende Tscherkessen vor dem Völkermord im Kaukasus nach Anatolien, im 20. Jahrhundert fanden von den Nazis verfolgte deutsche Intellektuelle Asyl am Bosporus. Nachdem die Türkei inzwischen mit Militärputschen und Kurdenkrieg einige Jahrzehnte lang selbst Flüchtlinge produziert hatte, ist sie heute wieder Zufluchtsland für Menschen aus aller Welt – und zwar für mehr Flüchtlinge als jedes europäische Land. Trotzdem besitzt sie bis heute weder ein Asylgesetz noch eine Asylbehörde. Das soll sich jetzt ändern.

Rund 29.000 Flüchtlinge aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten reichten bis zum 31. August dieses Jahres neue Asylanträge in der Türkei ein – das sind mehr Flüchtlinge, als die meisten EU-Länder im ganzen vergangenen Jahr aufnahmen. Offiziell sind es zwar 3000 Anträge weniger, als die Bundesrepublik Deutschland im selben Zeitraum verzeichnete, doch wird die Dunkelziffer von Flüchtlingen in der Türkei wegen der einfacheren Einreise weitaus höher geschätzt – viele tauchen in der 15-Millionen-Metropole Istanbul ab, ohne einen Asylantrag einzureichen. Gar nicht mitgerechnet sind die mehr als 130.000 syrischen Flüchtlinge in der Südtürkei, von denen rund 95.000 in Lagern versorgt werden, während sich die anderen 40.000 in Privatunterkünften selbst über Wasser halten.

Technisch bietet die Türkei den meisten dieser Flüchtlinge gar kein Asyl: Fast als einziges Land der Welt hält die Türkei an dem sogenannten geographischen Vorbehalt fest, den sie bei Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 geltend gemacht hatte und den heute nur noch drei andere Länder auf der Welt haben: Monaco, Madagaskar und Kongo. Der türkische Vorbehalt besagt, dass die Türkei nur Europäern politisches Asyl gewährt, oder genauer: Menschen, die vor Verfolgung in Europa fliehen. Doch die meisten Flüchtlinge in der Türkei kommen heutzutage aus Iran, Irak und Afghanistan, aus Somalia, Sudan und Kongo.

Abgeschoben hat die Türkei diese Flüchtlinge meist dennoch nicht. Bisher wurde die Lücke vom UNHCR überbrückt, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das afrikanische und asiatische Flüchtlinge in der Türkei weiter vermittelt an Drittländer wie die USA und Australien. Doch angesichts der dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen weiß auch die UN-Behörde nicht mehr weiter - den 29.000 neu registrierten Asylbewerbern und 15.000 anerkannten Asylberechtigten stehen in diesem Jahr nur knapp 6000 Plätze in Aufnahmeländern gegenüber. Schon jetzt warten Flüchtlinge in der Türkei durchschnittlich vier bis fünf Jahre, manchmal auch sieben oder acht Jahre auf den Abschluss ihres Verfahrens, sagt Taner Kilic, Vorsitzender des türkischen Flüchtlingshilfsvereins Mülteci-Der.

Schwarzarbeit, Inhaftierung, Abschiebung

Die Türkei duldet die Asylbewerber solange, doch die Lebensbedingungen sind hart. Materielle Hilfen gibt es weder vom türkischen Staat noch vom UNHCR. Das türkische Innenministerium weist den Flüchtlingen für die Dauer des Verfahrens eine Provinzstadt zu, um Ballungen in den Großstädten zu vermeiden. „Aber keiner fragt, wie sie da hin kommen oder wo sie da unterkommen oder wie sie überleben sollen – das ist ihr Problem,“ sagt Taner Kilic. Zur Schwarzarbeit gezwungen, geraten die Flüchtlinge leicht mit der Polizei aneinander, werden inhaftiert und abgeschoben, ohne dagegen Rechtsmittel einlegen zu können, wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof immer wieder kritisiert hat.

Denn ein Asylgesetz gibt es in der Türkei bis heute nicht. „Statt eines Gesetzes haben wir nur einen Haufen Dekrete und Dienstvorschriften“, sagt Tuncay Celik, Vizechef der Ausländerpolizei im Grenzbezirk Edirne, in dem zwei von drei illegalen Flüchtlingen in der Türkei aufgegriffen werden. Statt einer Asylbehörde ist es in der Türkei die Polizei, die für

Flüchtlingsfragen zuständig ist. Das soll sich mit dem neuen Asylgesetz ändern, das in den Ausschüssen von allen Parteien unterstützt wurde und dem Parlament jetzt zur Zustimmung vorliegt – einem der fortschrittlichsten und humanitärsten Asylgesetze der Welt, wie Experten loben. 

„Das Gesetz ist von der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichts geprägt, es wird allen Anforderungen des Gerichts gerecht, was etwa das Rückschiebungsverbot, Aslyverfahren und Inhaftierungen angeht“, sagt Kemal Kirisci, Professor für Politikwissenschaften an der Bosporus-Universität und einer der führenden Asylrechtsexperten des Landes. „Seine Autoren haben den Schwerpunkt auf die Menschenrechte gelegt statt auf den Sicherheitsgedanken – und das ganz bewusst zu einer Zeit, da in Europa der Sicherheitsgedanke die Überhand über den Menschenrechtsgedanken gewinnt.“

Auch Menschenrechtler wie Taner Kilic vom Flüchtlingshilfsverein begrüßen das Gesetz, in dessen Ausarbeitung alle in der Flüchtlingspolitik aktiven Vereine und Initiativen vom Innenministerium einbezogen wurden. „Wir sind ins Ministerium eingeladen worden, die Beamten haben sich mit uns an den Tisch gesetzt, und wir haben das Gesetz tagelang Artikel für Artikel durchgearbeitet,“ erzählt Kilic. Insgesamt sei es ein gutes Gesetz, meint Kilic - allerdings mit einem großen Vorbehalt: Der geographische Vorbehalt wird damit nicht aufgehoben. „Das bedeutet, dass Flüchtlinge weiterhin vom UNHCR in Drittländer ausgesiedelt werden müssen“, sagt Kilic. „Die entscheidende Reform, die Aufhebung des geographischen Vorbehalts, die steht noch aus.“

Das könne sich die Türkei nicht leisten, argumentieren Befürworter des Vorbehaltes, so wie Asylrechtsprofessor Kirisci, der ebenfalls vom Innenministerium konsultiert wurde und dabei für die Beibehaltung der Klausel eintrat. Kirisci verweist auf die Lage im benachbarten Griechenland, das den Ansturm von Flüchtlingen selbst als EU-Mitglied nicht bewältigen kann. Natürlich werde die Türkei den Vorbehalt eines Tages aufheben müssen, um der Europäischen Union beitreten zu können, räumt Kirisci ein. „Aber warum sollte die Türkei dieses Recht aufgeben, bevor sie die EU-Mitgliedschaft bekommt?,“ fragt er . „Ich sehe das als politisches Unterpfand für die Verhandlungen mit der EU.“

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