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Die Untersuchungshaft in der Türkei konnte bisher sehr lange dauern. Der Rekord liegt bei 14 Jahren.

© dpa

Freiheit für Extremisten: Radikale Islamisten in der Türkei profitieren von Reformgesetz

Das Gesetz sollte die Türkei demokratischer machen: Auf europäischen Druck hin begrenzte das Land die teils sehr langen Untersuchungshaftzeiten. Deshalb kamen jetzt auch islamistische Extremisten frei.

In der Türkei sind einige der gefährlichsten islamistischen Extremisten des Landes aus der Haft entlassen worden - und nicht nur Cihan Sincar bekommt es mit der Angst zu tun. Die Lokalpolitikerin aus dem südostanatolischen Kiziltepe ist Witwe eines Kurdenpolitikers, der von der türkischen Hisbollah ermordet wurde. Jetzt musste sie mitansehen, wie die Chefs dieser Gruppe frohgelaunt aus ihren Gefängnissen spazierten und einen Heldenempfang ihrer Anhänger genossen. „Niemand in der Türkei fühlt sich mehr sicher“, sagte Sincar am Donnerstag unserer Zeitung. „Sie sind Mörder. Warum laufen sie frei herum?“

Diese Frage beschäftigt seit Tagen Politik, Justiz und Medien in der Türkei. Ironischerweise profitierten die insgesamt knapp 20 Demokratie-Feinde der Hisbollah von einem Gesetz, das die Türkei demokratischer machen sollte. Gerichtsverfahren in der Türkei dauern oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Ankara steht unter europäischem Druck, die teilweise sehr langen Untersuchungshaftzeiten zu begrenzen – der Rekord steht bei 14 Jahren Haft ohne Urteil. Doch die Deckelung der U-Haft hatte jetzt zur Folge, dass der mutmaßliche Hisbollah-Chef Haci Inan und einige seiner hochrangigen Genossen auf freien Fuß gesetzt wurden.

Auch einige Mafiosi und Kurdenaktivisten kamen frei, doch die Hisbollah steht im Mittelpunkt des Interesses. In Ankara schieben sich Regierung und Justiz gegenseitig die Schuld für die fragwürdigen Freilassungen zu. Der Prozess gegen Hisbollah laufe weiter, und zudem müssten sich die Angeklagten jeden Tag bei der Polizei melden, versuchte ein Richter die Öffentlichkeit zu beruhigen. Doch nach Presseberichten schwänzten die Hisbollah-Leute schon am ersten Tag in Freiheit die Meldung bei den Behörden.

Die sunnitische türkische Hisbollah („Partei Gottes“), die nichts mit der gleichnamigen schiitischen Organisation im Libanon gemein hat, entstand in Südostanatolien und strebt die Errichtung eines Gottesstaates an. Ihren grausigen Ruf erwarb sich die Hisbollah durch Folterungen und Morde in den 1990er Jahren. Eine Hisbollah-Spezialität war die so genannte „Schweine-Fessel“, bei der Arme, Beine und Hals von Gefangenen zusammengezurrt wurden. Rund 50 Menschen soll die Gruppe auf dem Gewissen haben, darunter den Kurdenpolitiker Mehmet Sincar, den Mann von Cihan Sincar, der 1993 ermordet wurde.

Die Tatsache, dass die Hisbollah viele Kurdenaktivisten tötete, löste Spekulationen über eine Unterstützung staatlicher Stellen für die Gotteskrieger aus, die im Kampf gegen die kurdische PKK benutzt worden sein sollen. Im Jahr 2000 erschoss die Polizei in einem Feuergefecht den damaligen Hisbollah-Chef Hüseyin Velioglu. Kurz darauf soll der jetzt freigelassene Haci Inan die Führung übernommen haben. Nun sorgen sich viele, die Gruppe könnte wieder zu den Waffen greifen.

Terror-Experten wie Ihsan Bal vom Forschungsinstitut USAK in Ankara halten eine neue islamistische Gewaltwelle in der Türkei allerdings für unwahrscheinlich. Seitdem die Behörden im November 2003 von islamistischen Selbstmordattentaten in Istanbul überrascht wurden, bei denen mehr als 60 Menschen starben, stehe die Szene unter strenger Überwachung, sagte Bal im Gespräche mit dem Tagesspiegel.

Anders als in anderen islamischen Ländern gab es laut Bal in der Türkei in den vergangenen Jahren zudem keine Radikalisierung von Muslimen, sondern das Gegenteil: „eine De-Radikalisierung“, wie er es nennt. Demokratische Reformen und wachsender Wohlstand unter der religiös-konservativen Regierung in Ankara hätten islamistischen Extremisten das Wasser abgegraben. Militante Islamisten können demnach nicht auf Unterstützung bei der Mehrheit der Türken vertrauen. Ein potenzieller Gewalttäter mit Bombentraining im Irak oder Afghanistan wäre in der Türkei weitgehend isoliert, sagte Bal: „Sogar seine eigene Mutter würde zur Polizei gehen.“

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