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Ein Mädchen sitzt im Potocari Memorial Center an einem der 173 Särge mit Opfern aus Srebrenica, die zuletzt identifiziert worden waren.

© Dado Ruvic/Reuters

Gedenken an Genozid in Srebrenica vor 20 Jahre: Irgendwo lebt ein Massenmörder

Vor 20 Jahren wurden in Deutschland der Reichstag verhüllt und die Renten erhöht - während in Bosnien gemordet wurde. Seitdem arbeiten die Gerichte. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

An irgendeinem Ort dieser Erde lebt ein Mann, der früher einmal Dražen Erdemovic hieß. Er trägt diesen Namen nicht mehr. Nicht einmal seine Verwandten und früheren Freunde wissen, wo er lebt und wie er jetzt heißt. Erdemovic ist ein Massenmörder. Als Mitglied des 10. Sabotagekorps der bosnisch-serbischen Armee war der damals 23-jährige Soldat am Genozid von Srebrenica beteiligt, dem schwersten Kriegsverbrechen auf europäischem Boden nach 1945. Über dem Ort Srebrenica in Ostbosnien war im April 1993 die Flagge der Vereinten Nationen gehisst worden. Sie sollte Einwohnern und Flüchtlingen eine UN- Schutzzone anzeigen. Hierher sollten sich Zivilisten retten können, Mütter, Väter, Großeltern, Söhne, Töchter, Enkel. Serbische Milizen aus Bosnien und Serbien sabotierten den Schutz von Beginn an. Sie sollten der Bevölkerung den Garaus machen, ihr Auftrag war es, das Gebiet „ethnisch zu säubern“. Das gelang ihnen. Unter den Augen der unbewaffneten UN-Blauhelme aus den Niederlanden, deren Basis direkt am Ort lag, massakrierten militärische wie paramilitärische Einheiten etwa 8000 bosnisch-muslimische Zivilisten, Jungen und Männer zwischen 13 und 80 Jahren. Das Morden begann am 11. Juli 1995, am Samstag vor 20 Jahren.

Stundenlang schossen die Täter auf ihre Opfer

Einer der Täter an einer der Mordstätten war Dražen Erdemovic. Was ihn später von der Mehrzahl der anderen Mörder unterscheiden würde, war ein mutiger Entschluss. Vor dem UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag bekannte Erdemovic sich schuldig. Er sagte aus. Reihe für Reihe waren die von Frauen und kleinen Kindern getrennten, an den Händen Gefesselten auf Feldern, in Sporthallen, Scheunen aufgestellt worden. Stundenlang schossen die Täter auf ihre Opfer, die mit dem Rücken zu den Exekutionskommandos standen. „Alle trugen Zivilkleidung“, erinnerte Erdemovic. 1000 bis 1200 Menschen seien allein an dieser Stätte ermordet worden. Erdemovic selber schoss stundenlang, bis er, erschöpft und schockiert, um Erlaubnis bat, zu gehen. Seine Vorgesetzten ließen ihn. Indem die Mörder der patriarchal organisierten Gruppe der Muslime die Männer nahmen, argumentierte die Anklage, löschten sie gleichsam die Gruppe als solche aus – damit erfüllte ihr Verbrechen den Tatbestand des Genozids.

1995 war in Deutschland ein friedliches Jahr, der Sommermonat Juli erst recht. Bis Anfang Juli feierte man in Berlin den von Christo verhüllten Reichstag. In Ost wie West wurden die Renten erhöht. Der Verfassungsschutz freute sich über den Rückgang links- und rechtsextremistischer Gewalt. Chinas Präsident unterschrieb auf seinem Besuch einen Kreditvertrag über 180 Millionen Mark. Belgiens Königspaar kam zum Staatsbesuch. Als erster deutscher Formel-1-Fahrer gewann Michael Schumacher den Großen Preis von Deutschland auf dem Hockenheim-Ring. Kanzler Kohl erklärte in Warschau sein Engagement für den Beitritt Polens zur Europäischen Union.

Karadzic und Mladic blieben jahrelang auf freiem Fuß

Während all dies geschah, wurde in Bosnien gemordet, wurden Minarette und osmanische Baudenkmäler und Brücken gesprengt, zerfiel Jugoslawien weiter. Ende des Monats, am 27. Juli, kündigte der verzweifelte Menschenrechtsbeauftragte der UN, Tadeusz Mazowiecki, seinen Rücktritt an. In Bosnien würden sämtliche Regeln der internationalen Ordnung verhöhnt, sagte er der „New York Review of Books“; UN-Schutzzonen seien das ärgste Beispiel – die Nato, der Westen versage. Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic liefen in Straffreiheit herum. Gegen Karadzic und General Ratko Mladic hatte das UN-Tribunal wenige Wochen nach Srebrenica Anklage erhoben. Aber Mazowiecki behielt recht. Beide blieben noch Jahre auf freiem Fuß. Gefasst wurde Karadzic 2008, Mladic 2011.

Am UN-Tribunal und an Gerichtshöfen in Bosnien, sogar Serbien, wurde und wird in diesen Jahren das unermessliche Leid und Unrecht soweit es irgend möglich ist aufgearbeitet. Bis ins Detail wurde die Wahrheit sichtbar. Dražen Erdemovic erhielt als einer der wenigen Angeklagten nur fünf Jahre Haft. Das Gericht sicherte ihm für die Jahre danach Zeugenschutz und eine neue Identität zu. Auch dieser Täter aber, der auf seine Weise zum Held wurde, wird die traumatischen Spuren der Verbrechen sein Leben lang als psychische Narben behalten. Für die Überlebenden und Opfer bedeuten Traumata wie der Genozid von Srebrenica, das weiß man heute, eine gravierende Last, die über Generationen weiterwirkt. Das stärkste Heilmittel ist, neben Therapien, Entschädigungen, immer noch die Anerkennung der Wahrheit. Kaum etwas trägt mehr dazu bei, als Aussagen der Täter.

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