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"Gefahrengebiet" Hamburg: Auf der Reeperbahn kracht’s um halb eins

Demonstrationen, Straßenschlachten, Verletzte, Schuldzuweisungen. Seit Wochen ist das in Hamburg so. Beim Streit um das autonome Stadtteilzentrum Rote Flora geht es längst nicht mehr um wirkliche Interessen. Eine Reportage über den Konflikt an der Elbe, der zu einem Kampf um Symbole geworden ist.

Ein paar hundert Menschen stehen da und hauen sich Kissen auf den Kopf. Daunen fliegen. Wenigstens die Kinder haben Spaß, auch die Fernsehteams und Fotografen wirken recht zufrieden, gute Bilder, alles so witzig hier. Und natürlich auch ziemlich albern, aber vielleicht ist genau das, was sich am Freitagabend auf der Hamburger Reeperbahn begab, das passende Symbol nach ein paar Wochen, in der sie alle ein wenig durchgedreht sind in Hamburg, jeder auf seine Art. Um Symbole ging es dabei recht häufig.

Am Ende rief die amerikanische Botschaft ihre Landsleute zu erhöhter Aufmerksamkeit in Hamburgs Ausgehvierteln auf, und der Hotelverband sorgte sich, es würden bald die Touristen ausbleiben. Hamburg – ein Krisengebiet am Rande der Verwüstung, menschenleer? Es sieht so aus, als seien sie alle noch da.

Und so passiert, was passieren muss, wenn auf der Reeperbahn das Wochenende beginnt: Irgendwann kommen die Bierbikes, beladen mit Jungmännern, rollen vorbei an den kissenschlachtenden Protestlern und grölen fröhlich herüber, Event hier, Event da.

Eine Demo läuft aus dem Ruder

Rückblende: Am 21. Dezember läuft eine Demonstration im Schanzenviertel aus dem Ruder. Linke Gruppen hatten für die Erhaltung des autonomen Stadtteilzentrums Rote Flora aufgerufen, es ging außerdem um die Lampedusa-Flüchtlinge, die seit Monaten in Containern auf dem Gelände einer Kirche in St. Pauli ausharren, und die Erhaltung der „Esso-Häuser“, ein Gebäuderiegel an der Reeperbahn, der kurz zuvor von der Polizei geräumt wurde, Verdacht auf Einsturzgefahr.

Etwa 10 000 Demonstranten zählten die Veranstalter an diesem Tag, die Polizei kam auf rund 7000 Personen, darunter mehrere tausend Gewaltbereite. Die Demonstration endete nach vielleicht 50 Metern Wegstrecke, dann stoppte die Polizei den Aufzug, es kam zu Straßenschlachten. Die Schuld an den Ausschreitungen suchten beide Seiten beim anderen, die Demonstranten seien zu früh losgelaufen, bereits vorher gewalttätig gewesen, sagt die Polizei. Es sei von vorneherein beabsichtigt gewesen, die bis dahin friedliche Demonstration zu zerschlagen, sagen die Aktivisten.

Am Ende zählte die Polizei rund 170 verletzte Beamte, die Gegenseite zählte 500 Verletzte, und mancher fühlte sich an Zustände wie in den 80er Jahren erinnert, als sich Hausbesetzer und Polizisten rund um die Hafenstraße heftige Auseinandersetzungen lieferten. Was ist los in Hamburg?

Die Rote Flora - das letzte besetzte Haus

Auf den ersten Blick ist es ganz einfach: Die Rote Flora ist das letzte besetzte Haus in Hamburg, seit fast 25 Jahren. Ein Haus mit Tradition. Und ein Symbol der linksautonomen Szene. Auf Symbole und Traditionen legt man in dieser Szene mitunter gesteigerten Wert. „Nehmt ihr uns die Flora ab, machen wir die City platt“, lautet eine der Parolen, und geht es nach dem Willen einiger Aktivisten, ist das durchaus wörtlich zu verstehen.

Auf den zweiten Blick ist es komplizierter. Kurz vor der Bürgerschaftswahl 2001 wollte die damals regierende SPD das Grundstück loswerden, um dem Rechtspopulisten Ronald Schill beim Thema innere Sicherheit keine Angriffsfläche zu bieten. Genützt hatte es nichts, die SPD verlor zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Mehrheit in der Hamburger Bürgerschaft; der damalige Innensenator ist der heutige Bürgermeister: Olaf Scholz.

Den Zuschlag für die Rote Flora erhielt zum schon damals sehr günstigen Preis von knapp 200 000 Euro ein Investor, der zusagte, die Rote Flora in ihrem bisherigen Zustand zu lassen. Neuer Eigentümer der bis dahin landeseigenen Immobilie wurde Klausmartin Kretschmer, ein Mann, dem eine gewisse esoterische Neigung nachgesagt wird und der erklärte, er wolle als neuer Eigentümer mit den alten Besetzern aus dem Haus eine „kreative Samenbank“ machen. Daran hatten die Autonomen jedoch wenig Interesse, und so passierte, was halt passiert, wenn sich ein Hausbesitzer mit seinen Hausbesetzern trifft: Er bekommt Hausverbot.

Am Ende geht es um Geld

Nun will Kretschmer räumen lassen und hat sich mit dem Immobilieninvestor Gert Baer zusammengetan. Ein mehrstöckiges Gebäude soll an der Stelle entstehen, unten Tiefgaragen, wo die bisherigen Besetzer gerne ein paar Räume mieten könnten. Wenn man bei Symbolen bleiben will, dann wäre das der ausgestreckte Mittelfinger der Investoren. Ihr Problem: Sie dürfen nicht. Der Bezirk hat einstimmig einen Bebauungsplan erlassen, der ihre Wünsche unmöglich macht. Stattdessen soll alles im Wesentlichen so bleiben, wie es ist. Sagt die Politik.

Und Kretschmer? Er redet nicht mit Journalisten. Dafür reden andere über ihn. Zum Beispiel Uwe Szczesny, CDU-Chef im Bezirk. „Kretschmer ist ein Mann, der immer extrem auf den eigenen Vorteil achtet“, sagt der CDU-Mann, und dass die Anwohner im Schanzenviertel „in den letzten Jahren nicht dadurch aufgefallen seien, dass sie die Rote Flora nicht mehr haben wollen.“ Es sieht so aus, als könne selbst die CDU mit den Autonomen mehr anfangen als mit dem Eigentümer dieses Hauses.

So werden Kretschmer und Baer mangels Alternativen wohl an den Hamburger Senat verkaufen müssen. Am Ende geht es um Geld. Der Senat würde gerne kaufen, bot bereits eine Million Euro. Anders gesagt: In Hamburg vertritt die Stadt die Interessen der Rotfloristen und tritt gegen ein Investoren-Duo an. Müsste das nicht die Autonomen erfreuen? Es geht so. „Der Feind unseres Feindes ist nicht zwingend unser Freund“, sagt Aktivist Andreas Blechschmidt und fordert, das Gelände aus dem Grundbuch zu streichen. Das ist die Maximalforderung, noch so ein Symbol.

Nicht über jedes Stöckchen springen

Ein weiteres ist die Davidwache an der Reeperbahn, roter Backstein, denkmalgeschützt, von der Roten Flora keine zwei Kilometer entfernt. Ein schillernder Ort, eigentlich sind es sogar zwei Orte, je nachdem, mit wem man spricht. Die eine Lesart geht so: Zwei Punks an einem Donnerstagmittag, „gegen jede Autorität“ verrät der Aufnäher auf der Jacke des einen. Der andere hält einen Hund an der Leine, dieser pinkelt an die Wache. „Richtig so, immer schön ranpieseln“, lobt sein Besitzer. Ein Polizist kommt des Weges, verschwindet im Gebäude, vorher ein milder Blick in Richtung Punks. Er ist zu klug, auf die Provokation zu reagieren. Man muss nicht über jedes Stöckchen springen, erst recht nicht als Polizist.

Und erst recht nicht hier auf der Reeperbahn, im „Großstadtrevier“, wie die Serie in der ARD heißt, wo der Schauspieler Jan Fedder den kumpelig-knuffigen Polizeioberkommissar gibt. Es gibt die netten Geschichten aus der Davidwache, von den Beamten, die vor ein paar Monaten kollektiv Bauchschmerzen bekamen und eine geplante Razzia bei den Lampedusa-Flüchtlingen deshalb nicht stattfinden konnte.

Andere erzählen die nicht so netten Geschichten aus der Davidwache. Wie die eines Punks, dem in der Gewahrsamszelle von einem Beamten die Piercings mittels Seitenschneider abgeknipst und aus den Ohren gezogen wurden.

Und es gibt die bösen Geschichten aus der Davidwache. Wie zum Beispiel die vom 28. Dezember, als eine Woche nach der eskalierten Demonstration die Wache von 30 bis 40 Vermummten mit Flaschen und Steinen angegriffen wurde, wie die Polizei mitteilte. Mit Buttersäure sei die Fassade der Wache beschmiert worden, stand später in den Hamburger Zeitungen. Die aus der Wache stürmenden Beamten ohne Schutzkleidung wurden angegriffen, ein Beamter aus nächster Nähe von einem Stein im Gesicht getroffen, so dass der Kiefer und die Nase brachen, ein brutaler Gewaltakt.

Kontrollen ohne Anlass

Die Polizei reagierte, begleitet von den Solidaritätsbekundungen vieler tausend Bürger: Am 4. Januar richtete sie ein „Gefahrengebiet“ ein, in dem sie jederzeit Menschen ohne Anlass kontrollieren und Platzverweise erteilen darf. Betroffen war das Wohngebiet von etwa 80 000 Menschen. Sie wollten Stärke zeigen, SPD und Polizei. Das ist die eine Sichtweise.

Die andere lautet: Einschränkung der Bürgerrechte, nicht akzeptabel, Generalverdacht gegen Anwohner. Tatsächlich war nach sechs Tagen Schluss mit dem „Gefahrengebiet“, nur noch drei „Gefahreninseln“ blieben erhalten um drei Polizeiwachen. Wer die Gründe dafür erfahren will, der bekommt einen Einblick bei einem abendlichen Spaziergang durch das einstige „Gefahrengebiet“.

An den Straßenecken stehen Menschen, auch schwarz gekleidete Linksautonome, aber die sind nicht das Problem. Das Problem sind die Klobürsten. Sie sind überall, stecken in Rucksäcken und Fahrradschutzblechen. Manche sind ummantelt mit Elektroleuchten, einige sind golden angesprüht. An anderen Straßenecken stehen Jugendliche, darunter auch Kinder. Wenn Polizeiwagen an ihnen vorbeifahren, winken sie ihnen freundlich zu. Es gibt eine Szene in den Abendnachrichten, da ziehen zwei Polizisten in Kampfanzügen einem Mann eine Klobürste aus dem Hosenbund. Konfisziert als Schlagwerkzeug.

Sie waren auf Randale vorbereitet, nicht auf Klobürsten

Und nun laufen Kinder durch die Straßen und winken mit Bürsten in Richtung der Polizisten. Vielleicht waren Senat und Polizei auf weitere Randale vorbereitet, auf Klobürsten waren sie es nicht. Wenn Schulkinder vor schwer bewaffneten Polizisten mit Klobürsten winken, dann hat man als Polizist verloren. Dann wird man zur Witzfigur. Tatsächlich habe man das „Gefahrengebiet“ verkleinert, weil man erfolgreich gewesen sei und immer weniger gefährliche Gegenstände konfisziert habe, sagen die Verantwortlichen. Aber was sollen sie auch anderes sagen. Unter den Protestierenden glaubt ihnen ohnehin kaum jemand.

Wenn sie mit dem Winken aufhören, dann beschimpfen sie die Beamten als Lügner. Denn in den letzten Tagen stellte sich heraus, dass sich der Angriff auf die Davidwache mit dem schwerverletzten Beamten nicht so ereignet hatte, wie von der Polizei behauptet. Stattdessen musste sie einräumen, dass die Opfer der Attacke nicht aus der Davidwache, sondern von einer Streifenwagenbesatzung stammten, die etwa 200 Meter von der Davidwache entfernt angegriffen wurden.

Kein Angriff auf die Wache

Einen Angriff auf die Davidwache habe es gar nicht gegeben, behauptet ein linker Szeneanwalt und beruft sich auf namenlose Zeugen, die sich bei ihm gemeldet hätten. In den Folgetagen meldeten sich weitere angebliche Augenzeugen bei Zeitungen und bestritten den Angriff auf die Wache. Offen auftreten will von ihnen bisher niemand, und so bleiben Zweifel an ihrer Darstellung. Aber auch die Polizei hat bis heute keine Beweismittel wie beispielsweise Spuren von Buttersäure präsentieren können. Stattdessen spricht sie nun von einem „buttersäureähnlichen Geruch im Bereich der Davidwache“ – und verweigert weitere Antworten.

So bleiben Fragen, auch Andreas Hofstetter hätte ein paar davon. Zum Beispiel die, wo er künftig wohnen soll.

Zurück zur Kissenschlacht, wo hinter dem Schlachtfeld die geräumten Esso-Häuser stehen. Hier lebte Hofstetter 25 Jahre lang, gut die Hälfte seines Lebens. Geringverdiener in bester Stadtlage, unten Clubs, an der Seite die namengebende Tankstelle.

Lange Haare, breiter Akzent

Er sieht so aus, wie die Bewohner von St. Pauli in den Marketingplänen der Eventagenturen oft beschrieben werden: die Haare lang, der Akzent breit, ein bisschen widerständig . Seit die Polizei das Haus wegen Einsturzgefahr räumte, übernachtet er bei einem Bekannten. Die Esso-Häuser sollen abgerissen werden, ein Neubau entstehen. Der Eigentümer habe das Haus absichtlich verrotten lassen, sagen sie. Mit Neubauten ist mehr Geld zu verdienen. Auch wenn es nicht viele Gewissheiten gibt, wie es in den nächsten Tagen weitergehen wird, wenigstens eins steht fest: Für Hofstetter war es das, als Frührentner wird er die neue Miete kaum zahlen können. Ein Paulianer, für den in St. Pauli kein Platz mehr ist.

Natürlich war er auf der Demonstration am 21. Dezember mit dabei. Als sich dann abends die Krawalle bis auf die Reeperbahn ausgeweitet hatten, standen irgendwann auch ein paar hundert Menschen vor den Esso-Häusern. Da hat er seine Chance genutzt und ist einfach wieder eingezogen. Rein in die alte Wohnung, ein Bad eingelassen, dazu eine Flasche Sambuca. Ein letztes Mal ist es so gewesen, wie die Stadtplaner das Viertel nach außen hin vermarkten. Zwei Tage blieb er, unbemerkt von Polizei und sonstigen Autoritäten. Dann ging er, durch den Keller.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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