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Massive Polizeipräsenz vor dem Justizpalast in Istanbul.

© Reuters/Osman Orsal

Update

Geiselnahme in Istanbul: Polizei stürmt Justizgebäude – Staatsanwalt erliegt seinen Verletzungen

Die Geiselnahme eines Staatsanwalts in Istanbul hat ein blutiges Ende genommen: Die Angreifer, die zu einer linksextremen Gruppierung gehörten und den Tod eines 15-jährigen Jungen bei den Gezi-Protesten rächen wollten, wurden von der Polizei erschossen. Der Staatsanwalt starb im am Abend im Krankenhaus.

Kurz nach Mittag stürmten am Dienstag drei bewaffnete Männer in ein Büro im sechsten Stock des Justizpalastes Caglayan im europäischen Teil der türkischen Metropole Istanbul. Am Schreibtisch des Büros saß Mehmet Selim Kiraz, ein Staatsanwalt mit 14 Jahren Berufserfahrung und einem ganz besonders heiklen Fall in seinem Zuständigkeitsbereich. Die Angreifer verschlossen Kiraz den Mund mit Klebeband, hängten Plakate der linksextremen Terrorgruppe DHKP-C an die Wand, hielten dem Staatsanwalt eine Pistole an den Kopf und fotografierten ihr Opfer. Am Ende des Tages waren die Geiselnehmer tot und Kiraz erlag am Abend seinen schweren Verletzungen.

Kiraz war nicht irgendein Staatsanwalt in Istanbul. Er untersuchte den Tod von Berkin Elvan, eines 15-jährigen Jungen, der zum Symbol der Polizeigewalt in der Türkei geworden ist. Im Sommer 2013 war Berkin während der Gezi-Proteste beim Brotholen von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen worden und ins Koma gefallen. Ein gutes halbes Jahr später starb er. Die Verantwortlichen sind bis heute unbekannt, Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigte den toten Teenager sogar, er habe nicht Brot kaufen, sondern Polizisten attackieren wollen.

Geiselnehmer wollen Rache für Berkin Elvan

Die Geiselnehmer im Justizpalast Caglayan wollten nun Rache für Berkin Elvan, auf ihre Weise. Sie veröffentlichten das Foto des Staatsanwalts mit der Pistole am Kopf im Internet und stellten ihre Drohung dazu: Wenn die Behörden nicht schleunigst die Schuldigen für den Tod von Berkin nennen sollten, dann werde der Staatsanwalt sterben. Die DHKP-C ist als gewaltbereite Organisation bekannt, die schon viele Anschläge auf dem Gewissen hat und häufig Selbstmordattentäter einsetzt. Möglicherweise konnten die Geiselnehmer wegen eines landesweiten Stromausfalls, der die Metalldetektoren am Eingang zum Gerichtsgebäude außer Gefecht setzte, mit ihren Waffen bis zum Büro des Staatsanwalts vordringen.

Bei den Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul war es im Frühjahr des vergangenen Jahres zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen.
Bei den Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul war es im Frühjahr des vergangenen Jahres zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen.

© AFP

Der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok erklärte, er wolle den Zwischenfall unblutig beenden und ordnete Verhandlungen mit den Geiselnehmern an. Gleichzeitig verhängten die Behörden eine Nachrichtensperre, um zu verhindern, dass sich die Geiselnehmer durch Medienberichte über mögliche Vorhaben der Polizei informieren konnten.

Sami Elvan, der Vater von Berkin Elvan, wandte sich unterdessen mit einem Appell der Besonnenheit an die Geiselnehmer: Sie sollten den Staatsanwalt sofort freilassen. Sein Sohn sei zwar tot, doch wolle er nicht, dass noch weitere Menschen mit dem Leben bezahlen müssten. „Wir wollen Gerechtigkeit, nicht Rache“, erklärte Sami Elvan.

Bilanz. Zwei Tote, zwei Schwerverletzte

Doch auch er konnte die blutige Eskalation nicht verhindern. Am Abend drangen die Geräusche einer Explosion und mehrerer Dutzend Schüsse aus dem Gerichtsgebäude – die Polizei hatte das Büro gestürmt, in dem der Staatsanwalt festgehalten wurde. Die beiden Geiselnehmer wurden getötet. Kiraz wurde schwer verletzt, offenbar erhielt er Schüsse in Bauch und Brust. Am Abend erlag er schließlich im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen, sagten die behandelnden Ärzte im türkischen Fernsehen.

Der Fall Berkin Elvan wühlt auch heute noch die Menschen in der Türkei auf. Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein junger Terrorist, der seine verdiente Strafe erhalten hat. Nur wenige Stunden vor der Geiselnahme vom Dienstag hatte ein Istanbuler Gericht einen Polizisten zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der Beamte hatte im Internet die für den Tod von Berkin Elvan verantwortlichen Kollegen mit den Worten gelobt, er küsse jenen die Hände, die dem Jungen in den Kopf geschossen hätten.

Bisher haben die Behörden die Hauptverantwortlichen nicht ermittelt – Gegner sagen: nicht ermitteln wollen. Erst vor zwei Wochen, also mehr als zweieinhalb Jahre nach dem tödlichen Schuss auf Berkin Elvan, schickte die Polizei eine Liste mit den Namen von 21 Polizeibeamten, die als Täter in Frage kommen, an Staatsanwalt Kiraz. Die auffällige Langsamkeit von Polizei und Staatsanwalt bei der Tätersuche hat den Vorwurf eines Vertuschungsmanövers ausgelöst – und offenbar auch den Anschlag auf den Staatsanwalt. (mit AFP)

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