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Jacob Holdt: Der ewige Tramp

Ohne Geld reiste Jacob Holdt fünf Jahre durch die USA. Unterwegs schoss der Däne 15000 Fotos. Seine Bilder schockierten 1977 die Welt, denn so abgründig hatte das Land noch niemand gezeigt. Heute werden sie als Kunst entdeckt.

Es konnte nur ein Däne sein. Ein dänischer Pastorensohn. Kein Schwarzer wäre in die Slums gegangen, um das Bild des Elends dort festzuhalten. Im Zweifelsfall hätte er selber darin festgesteckt – oder wäre froh gewesen, entkommen zu sein. Wenn Jacob Holdt seine „Bilder aus Amerika“ in Harvard, Princeton oder Yale zeigt, verlassen schwarze Studenten oft weinend den Saal. Was sie dort sehen, kennen sie nur allzu gut, fast jeder, sagt Holdt, hat einen drogensüchtigen Bruder im Gefängnis, eine alleinerziehende Mutter, die in Armut versinkt, einen Vater, der ermordet wurde oder einfach verschwunden ist. Ein weißer Amerikaner wäre erst recht nicht mit der Kamera ins Ghetto gegangen. Viel zu viel Angst hätte er gehabt. Berechtigte Angst.

Aber einem wie ihm waren sie noch nie begegnet. Einem, der mit geflochtenem Bart durch die gefährlichsten Gegenden lief. Der 61-Jährige lacht, „sie dachten, so blöd kann doch keiner sein“. Aber nicht einmal davor scheint er Angst zu haben: einen Idioten aus sich zu machen. Holdt weiß, dass er mit seinem Zopf Menschen entwaffnet, ebenso wie durch seine Offenheit, seine kindliche Lust an der menschlichen Begegnung. Jacob Holdt redet mit jedem und hört jedem zu – und was sie ihm erzählen, oft zum ersten Mal im Leben, scheint seinen festen Glauben zu bestätigen: dass Selbsthass der Motor vieler Aggressionen ist, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt, dass Schwarze und Mitglieder des Ku-Klux-Klans ganz ähnliche Verletzungen und Missbrauchsgeschichten erlebt haben.

Holdt hat in brüchigen Hütten in den Südstaaten geschlafen, wo der Fernseher das einzige intakte Möbelstück ist, in Löchern, wo Ratten und Kakerlaken zuhauf herumliefen. Er hat mit Mördern und Prostituierten, Räubern und Transvestiten, Bitterarmen und Multimillionären unter einem Dach gewohnt. Mit etlichen seiner Gastgeber hat er auch geschlafen. Erst das Überschreiten dieser Schwelle, so hat er einmal erklärt, erlaube die Intimität, sich dem anderen ganz zu öffnen. Es ist die Intimität, die seine Bilder auszeichnet.

Fünf Jahre lang ist Jacob Holdt Anfang der 70er durch die USA getrampt, ohne Geld in der Tasche. 15 000 Fotos hat er unterwegs geschossen – wenn er zwei Mal in der Woche Blutplasma spendete, konnte er sich zwei Rollen Film leisten. Was er zum Leben brauchte, hat er sich geben lassen oder auch geklaut. Eigentlich wollte er ja nach Guatemala, zur Guerilla, erzählt Jacob Holdt beim Gespräch in Kopenhagen und lacht. Er, der als junger Mann aus der königlichen dänischen Garde rausflog, weil er nicht schießen konnte, wollte in den bewaffneten Kampf ziehen?!

Seine Bilder waren ein Schock: So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen. 1977 kam sein Buch „Pictures of America“ auf Englisch heraus, ein Jahr später auf Deutsch im Fischer Verlag, erlebte eine Auflage nach der anderen, der „Spiegel“ brachte einen Vorabdruck in drei Teilen, zum ersten Mal mit Farbfotos. Seitdem zeigt Holdt die Bilder in Europa und Amerika; nur ein Viertel der Dias in seiner fünfstündigen Multimediashow sind später entstanden. Allein zehn Jahre lang zeigte er sie nonstop in seiner Kommune in Kopenhagen, in die Scharen junger Leute pilgerten, im Schlafsack übernachteten, immer mehr Leute kamen, am Schluss waren es fast 70, da wurde es selbst Holdt zu viel. Seine Frau war mit den beiden Kindern längst ausgezogen.

Jacob Holdt war der Erste, der mit einer jahrhundertealten Familientradition brach und nicht Pastor wurde. Aber als der Tramp, inzwischen deprimiert, von seiner langen Reise aus den USA zurückkehrte, zeigte er seine Dias als Erstes in der Kirche seines Vaters. Als dieser ihn zu Vortragsreisen in die USA begleitete und in den College-Auditorien 2000 Zuschauer sah, musste er bekennen: „Du hast mehr Leute in Deiner Kirche als ich.“

Holdt hat keine Berufsausbildung, nicht einmal einen Schulabschluss – der junge Rebell war aus dem Gymnasium geflogen –, die Fotos sind sein Kapital, sein Leben, seine Mission. Am Mittwoch hat er sie in Kopenhagen gezeigt, vor einer Versammlung von Amnesty, am Donnerstag ist er nach Jütland gefahren, abends um elf kam er todmüde an, wollte eigentlich nur noch ins Bett, aber seine Gastgeber wollten das nicht, wollten doch mit ihm, dem berühmten Jacob Holdt reden, machten eine Flasche Wein nach der anderen auf, am Morgen um sieben musste er in die Schule, seine Diashow aufbauen, und hinterher im schlimmsten Berufsverkehr sechs Stunden im Auto sitzen. Da steht die Journalistin schon vor der Tür.

Holdt ist erschöpft, seit einem Jahr quält er sich mit einer Erkältung herum, von der ihn kein Arzt befreien kann, hustet sich am Abend fast die Seele aus dem Leib. Aber Samstag früh steht er wie jeden Morgen um sieben auf: um zu laufen. Mit Anfang 40 hat er angefangen, seit zehn Jahren läuft er die großen Marathons mit – natürlich in Sandalen und Schlabberlook. Beim Frühstück guckt Vibeke Holdt ihren Mann an und lacht, wie so oft, verwundert: wie sie mit einem solchen Verrückten zusammen sein kann. Seit 30 Jahren.

Auf das Laufen ist Jacob Holdt stolz. Es sei das Einzige, was er je aus eigenem Antrieb gemacht hat. Alles andere ist dem Fatalisten irgendwie passiert. Durch Amerika ist er getrampt, weil er kein Geld für den Bus hatte. Fotografiert hat er, weil seine Eltern ihm eine Kamera schenkten: Sie mochten nicht glauben, was er ihnen in seitenlangen Briefen von der brutalen Armut, vom Rassismus in den USA schrieb. Ein Buch hat er daraus gemacht, weil ihn eine dänische Zeitung darum bat. Seinen Bartzopf verdankt er ein paar giggelnden schwarzen Mädchen in Chicago, die sich gerade selber die Haare flochten.

Seine momentane künstlerische Renaissance verdankt er Kuratoren. Um die Ausstellung im Essener Folkwangmuseum im vergangenen Jahr, die anschließend durch Europa tourte, hat Holdt sich ebenso wenig selber gekümmert wie um das Buch dazu im Steidl Verlag. „United States 1970-1975“ sieht völlig anders aus als das mit Fotos und Text vollgestopfte „Bilder aus Amerika“: clean, farbig, künstlerisch – und mit sehr viel mehr weißen Menschen. Der Band hat Holdt eine Nominierung für den mit 30 000 Euro dotierten Deutsche Börse Photography Prize 2008 eingebracht; in diesem Rahmen sind 80 seiner Dias auch ab nächster Woche in der Galerie c/o Berlin zu sehen.

Auf der ersten Ausstellungsstation, in London, hat Elton John sich sechs Bilder ausgesucht – aber noch nicht abgeholt. Deshalb kann Holdt nach wie vor stolz erklären, dass er erst ein einziges Foto im Leben verkauft hat: „an einen Toten“. Der Mann war gestorben, bevor er zahlen konnte, aus Pietät beglich seine Frau die Rechnung. Wie er die mangelnde Nachfrage trotz des boomenden Fotokunstmarkts erklärt? „Die Leute kaufen keine Bilder von Slums.“ Aber käme ein Galerist auf ihn zu, wäre Holdt wahrscheinlich auch damit einverstanden. Dann könnte er ja wieder für Afrika spenden.

Jacob Holdt interessiert sich nicht für Fotografie. Künstler, die mit ihm in Verbindung gebracht werden, wie Larry Clark oder Nan Goldin, sind ihm fremd. Seine Bilder zeugen von einem untrüglichen Auge, einem Gefühl für Komposition und Licht, viele seiner Fotos sind Ikonen geworden, haben auch 30 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Wucht verloren. Aber wenn Jacob Holdt sagt, er verstehe nichts davon, so ist das mehr als Koketterie. Es ist ein Bekenntnis: Er begreift sich nicht als Fotograf, sondern als „social activist“. Die Bilder sind für ihn Mittel zum Zweck – dem Kampf gegen den Rassismus. „Den Rassismus in Dir.“

Dort, wo sein Buch zu anti-amerikanischer Propaganda missbraucht werden sollte, egal, ob in West oder Ost, hat er es schon in den 70er Jahren zurückgezogen. Jacob Holdt liebt Amerika – er spricht den Namen fast archaisch aus: Amarrika –, so wie er inzwischen sein eigenes Land liebt, vor dessen Enge und Langeweile er einst geflohen war. Und deswegen erlaubt er niemandem, mit dem Finger auf andere zu zeigen. In Dänemark, findet er, gibt es reichlich Rassismus, vor allem gegen Muslime. Darüber redet er heute, wenn er die Bilder aus Amerika zeigt.

Und über die Menschen, die darauf zu sehen sind. Mit vielen ist er noch immer befreundet, besucht sie, wenn er, wie jedes Jahr, wieder ein paar Monate in den USA ist, schreibt Briefe, so lang wie Romane. Er weiß, welche junge Frau inzwischen Großmutter ist und im Gefängnis sitzt, welche schlanke Schönheit fett wie eine Tonne ist, wessen Sohn erschossen wurde, welcher Alkoholiker heute trocken ist, wen er in Lebensgefahr gebracht hat, wer gestorben ist. Seine erste Frau Annie zum Beispiel, eine Schwarze aus Mississippi, die Ehe war ein Desaster, trieb beide in Depression und Aggression. Es war einer der Gründe, warum der Däne schließlich nach Hause zurückkehrte.

Heute wohnt Jacob Holdt in Kopenhagen in einem alten Haus, das nicht schöner sein könnte, voller Bücher und Bilder und Blumen, mit alten Möbeln und bequemen Sesseln. Seine zweite Frau hat es von ihrem Vater geerbt, ihr Großvater war Künstler, sie arbeitet bei einer Organisation, die Kunst aus Afrika nach Dänemark holt. Furchtbar gerne würde Vibeke Holdt mal, ganz romantisch und bequem, in Amerika in einem Hotel übernachten. Aber ihr Mann schläft am liebsten bei Freunden, Fremden oder auf der Matratze im Bus. Seine Haare sind grauer und dünner geworden, aber er ist der Tramp geblieben, der er in den 70er Jahren war. Ein Jackett besitzt er bis heute nicht. Wenn er jetzt mit dem eigenen Bus durch Amerika reist, dann wegen all der Dias, des Projektors, der Bücher, dessen amerikanische Ausgabe er selbst vertreibt beziehungsweise von seinen Junkie-Freunden verkaufen lässt. Und weil kaum noch jemand Anhalter mitnimmt. Außer Jacob Holdt natürlich. Er nimmt jeden mit, der am Wegesrand steht. Und hört ihm zu, egal, ob er Mörder oder Ku-Klux-Klan-Führer ist.

Die Welt um ihn herum mag postmodern und zynisch geworden sein, schreibt Christoph Ribbat im neuen Foto-Buch. Aber „Jacob ist Jacob, im Jahr 1970, 1978 und 2007“. Wenn er, eigentlich erschöpft und etwas genervt, beim Treffen in Kopenhagen zu erzählen beginnt, wie er im letzten Herbst einer muslimischen Kandidatin im Wahlkampf geholfen hat, wie sie nachts durch die Straßen gelaufen und auf Laternen geklettert und Plakate aufgehängt haben, blüht er auf wie Huckleberry Finn, der von seinem letzten gelungenen Streich erzählt. Die Kandidatin wurde gewählt. Das empfindet er als Triumph: „Wenn die Rechten diesen Menschen jeden Tag im Parlament begegnen, können sie nicht mehr so hetzen über sie.“ Leute zusammenzubringen statt sie zu ghettoisieren, heißt seine Devise.

Jacob Holdt ist doch Guerillero geworden: Einer, der subversiv kämpft. Nur mit anderen Waffen.

Deutsche Börse Photography Prize bei c/o Berlin im Postfuhramt, Oranienburgerstraße/Tucholskystraße, 16.5.-13.7.
Jacob Holdt, „United States 1970-1975“, Steidl Verlag, 39 Euro. „Bilder aus Amerika“ gibt es nur noch antiquarisch oder online auf Holdts umfangreicher Website: www.american-pictures.com.

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