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© ddp

Wende: Die Mauerspringer

Zwei Männer, ein Ossi, ein Wessi. Unversöhnlich und halsstarrig. Aber unverzagt. Lektüre einer deutsch-deutschen Korrespondenz.

Hans Christange wollte Schluss machen. Mehrmals. Immer dann, wenn es ihm kaum gelang, nett zu sein. Sein Repertoire an Höflichkeitsfloskeln ist groß. Höflichkeit ist ihm Herzensangelegenheit. Im Eifer des Gefechts war er also drauf und dran, sich selbst zu erledigen. Deshalb wollte er mehrmals Schluss machen mit der deutschen Wiedervereinigung.

Er schrieb: „Ich bin tatsächlich nicht mehr gewillt, Auseinandersetzungen in der Art weiterzuführen.“ Oder: „Muss ich mir das in meinem Alter wirklich noch antun?“ Das war keine Frage, sondern eine Drohung. Sie erweckte den Eindruck, als wäre es ihm möglich, sich der Realität zu entziehen.

Christange wurde als eines von fünf Kindern eines Berliner Telegrafenarbeiters und einer Verkäuferin geboren. Über seine Kindheit fegte Hitlers Krieg hinweg. Seine Jugend verbrachte er zwischen Ruinen eines Landes, das unfassbar Schuld auf sich geladen hatte. Als er 15 war, wurde die DDR gegründet. Er gab sich der neuen Heimat hin, studierte an der Humboldt-Universität Jura, war Staatsanwalt in Cottbus. Bis die Heimat plötzlich verschwand und er nicht mehr Staatsanwalt sein durfte. Da war er Mitte 50. Was allgemein „politischer Umbruch“ genannt wurde, erlebte Hans Christange ganz privat: Abwicklungen, Treuhandverkäufe, Betriebsschließungen, jede Straßenumbenennung waren Angriffe auf seine Biografie. Bald wird er 75.

Der Mann, an den die Drohungen adressiert sind, heißt Klaus Stenzel. Er fühlt sich getroffen. Nimmt Papier und Stift, notiert Worte, die gegen den Mann aus Cottbus anrennen sollen. Die Notizen lässt Stenzel erst liegen. Dann schreibt er einen Brief, der zum Beispiel so endet: „Die Entscheidung, weiterzumachen oder nicht, liegt bei Ihnen.“ Er fügt hinzu: „Ich würde mich jedoch freuen, wieder von Ihnen zu hören.“ Immer wieder drohen und immer wieder besänftigen, das ist ein Briefwechsel. Ein Hin und Her zwischen Ost und West, ein Tauziehen, ein Gerangel, das mittlerweile 13 Jahre andauert.

Das Höflichsein hat Klaus Stenzel von Hans Christange übernommen. Stenzel verbrachte die Kindheit in den Sechzigern in der Frontstadt Westberlin. Seine Jugend in den Siebzigern begann mit dem Kniefall von Warschau, dem Radikalenerlass, Berufsverboten. Stenzel erlebte die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München, das Ende des Vietnamkriegs, die Guillaume-Affäre, den Rücktritt Willy Brandts. Er studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Dann fiel direkt vor seiner Nase die Mauer um. Dass er Anfang der Neunziger nach Darmstadt ziehen musste, weil es in Berlin keine Jobs für Lehrer gab, ist das einzige, was man als Bruch in seiner Biografie bezeichnen könnte. Klaus Stenzel hatte nichts auszustehen. Er hat gut reden. Er nimmt die Wiedervereinigung in Angriff, während Christange in Verteidigungsposition verharrt.

Bevor er morgens am Darmstädter Bertolt-Brecht-Gymnasium zum Unterricht erscheint, kauft Stenzel am Hauptbahnhof das „Neue Deutschland“ (ND). Er nimmt es mit in den Grundkurs Sozialkunde, behandelt Probleme und Chancen der Wiedervereinigung. Im Januar 1996 fährt er mit dem Kurs nach Magdeburg, Sachsen-Anhalt. Es ist eine weite Reise für die Südhessen. Sie sind mit einer Magdeburger Gymnasialklasse verabredet, doch als sie eintreffen, stehen da nur wenige Schüler, und die Lehrerin lässt sich entschuldigen. Sie besuchen den Landtag, der Ministerpräsident wartet, das Fernsehen. Doch zwischen den Jugendlichen aus Ost und West kommt kein Gespräch zustande, nur ein Wortgefecht. Ein Fernsehreporter sagt: „Sie verstehen sich immer noch nicht, obwohl sie die gleiche Musik hören, die gleichen Cocktails trinken.“

In Darmstadt schreiben Stenzel und die Schüler auf, wie sie den Osten erlebt haben. Sie erzählen von alten Straßenbahnen und dass in Magdeburg fast nur Westautos fahren. Dass ostdeutsche Schüler beim Besuch im Stasi-Knast meinten, die Stasi sei nicht schlimm gewesen. Dass sie behaupteten, die DDR sei von der BRD annektiert worden. „Sie sagten, sie hätten kein Interesse an unserem Leben“, schreibt ein Mädchen. Ostern 1996 steht der Text im ND.

Hans Christange ist da 61 Jahre alt. Er sehnt sich nicht danach, wieder mal gedemütigt zu werden. Jedoch reagiert er, als würde er seine Zeit in Erwartung dessen verbringen. Er schreibt einen Leserbrief. Die alten Straßenbahnen, ruft er Richtung Westen, konnte man in der DDR für ein paar Pfennige benutzen! Er fuchtelt mit Worten, spricht von sozialer Sicherheit, platt gemachter Industrie, fehlenden Arbeitsplätzen, Perspektivlosigkeit.

Klaus Stenzel bekommt viel Ostpost, aber nur bei Christange steckt der Zorn im Höflichkeitskorsett. Nach einem halben Jahr meldet sich der Cottbusser noch mal. Er ist beharrlich. Er ist auf Mission. Er will das Leben in der DDR verteidigen. Ein Briefwechsel kommt in Gang. Stenzels Post enthält klare Sätze, kaum Abschweifungen. Sie hat etwas Sportliches, ein Ziel. Er will „über den westdeutschen Tellerrand blicken“, diskutiert die Briefe im Unterricht, schickt Schülermeinungen nach Cottbus, bittet um Replik. „Ich finde Ihre Argumente teilweise so interessant, dass ich überlege, ob ihr Brief nicht als Basistext für das mündliche Abitur taugt“, lässt er Christange wissen. Mittlerweile lebt er in Speyer, Rheinland Pfalz, lehrt am Kolleg, wo Abiturienten älter sind.

In den Briefen zwischen Ost und West geht es um Vergangenheit und Gegenwart, um Fernsehshows, die Arbeitsmarktreform, Israel, Palästina, den Krieg in Afghanistan. Um Stalin und Willy Brandt, Maybrit Illner und Rosa Luxemburg, um Joachim Gauck, Karl-Eduard von Schnitzler, Kati Witt und Paul Breitner. Hans Christange verfasst die Post im Cottbusser Plattenbau, wo er seit 1965 wohnt. Christange hebt Wörter fett hervor, unterstreicht, listet auf. Er verfährt akribisch, um kein Argument zu vergessen, er glaubt, er wird sowieso nicht verstanden. Michail Gorbatschow ist für ihn ein Verräter und der Zerstörer der Sowjetunion. Deutsche Zeitungen sind Zeitungen des Großkapitals und, Journaille. Und im Grundgesetz steht nicht, dass die Bundesrepublik kapitalistisch sein muss.

Klaus Stenzel hat Familie, Freunde, die Arbeit, eine Modelleisenbahn. Dorthin flieht er, wenn ihn Christanges Argumentationsketten malträtieren. Er schaut zu, wie Züge planmäßig über Schienen surren, sich Weichen stellen. Irgendwann macht er sich dran, wieder mal per Brief drauf zu verweisen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Er fasst sich kürzer als Christange. Er ist überzeugt, er hat die besseren Argumente.

Eines Tages Ende der 90er treibt er den Disput auf die Spitze. Er steckt einen Zeitungstext aus der „Frankfurter Rundschau“ in die Post: Ein junger Lehrer aus Westberlin kommt an eine Brandenburger Schule, wo man ihn weder begrüßt noch in den Schulablauf einweist. Seine Verbesserungsvorschläge zum Unterricht will man nicht haben. Die Kollegen grüßen ihn nicht, verlassen das Lehrerzimmer, wenn er kommt, klappen Türen vor seiner Nase zu. Schüler sagen: „Aus dem Westen kommt nur Schrott, das Leben wird teurer, die Jugendklubs schließen, die Politiker lügen uns an. Was wollen Sie hier?“ Sie schreiben an die Tafel: „Verpis dich, du scheis Wesi!“ Er will mit ihnen reden, sie reagieren nicht, also korrigiert er die Schreibfehler. Nach wenigen Monaten verlässt er Brandenburg.

Hans Christange hält den Artikel in den Händen wie eine Handgranate. Dies ist sein Grundgefühl: dass es bei der Wiedervereinigung ums Überleben geht. „Westlehrer werden im Osten eingestellt, aber keine Ostlehrer im Westen“, schreibt er. „Uns alles Westliche überstülpen zu wollen, geht am Leben vorbei.“ Sofort schreibt Stenzel zurück, gesteht: Der Lehrer im Text war er selbst. „Seien Sie mir bitte nicht böse!“, ruft er nach Cottbus.

Jedes Jahr am 8. März lässt er Stenzels Gattin Grüße zum Internationalen Frauentag ausrichten. Klaus Stenzel schenkt ihm dafür ein DDR-Quiz und einen Bastelbogen vom Palast der Republik. Er schickt ein Foto seiner Modellbahn. Auf den Marktplätzen der kleinen Dörfer, die er gebaut hat, stehen Infostände renommierter Parteien, aber auch einer der Linken. Es gibt auch einen Grenzturm, Stacheldraht, Panzerkreuze. Auf den Straßen fahren Trabis. Christange erkennt genau so einen, wie er besaß: blau mit weißem Dach. „Über diese Gestaltung freue ich mich außerordentlich“, schreibt er.

Stenzel setzt auf Fußball. „Chemnitz ist in die zweite Liga aufgestiegen, oder heißt Chemnitz bei Ihnen noch Karl-Marx-Stadt?“, fragt er. Dass Bayern Meister ist, Mainz nicht absteigen und wenigstens eine ostdeutsche Mannschaft in die erste Liga soll, hält er für eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Christange lässt ihn wissen: Er habe Freudentränen in den Augen gehabt, als Jürgen Sparwasser 1974 das Tor gegen die BRD schoss. „Vielen Dank für Ihren Optimismus zum Klassenerhalt von Energie“, schreibt er im März 2003. „Das ist aber angesichts der aktuellen Kriegsgefahr zweitrangig.“

Obwohl sie sich seit über zehn Jahren schreiben, kennen sie sich nicht. Sie haben einander nie gesehen, nie telefoniert. Ihre Wiedervereinigung ist pur. Sie hat keinen Gesichtsausdruck, keinen Tonfall, keinen Geruch. Die Höflichkeit, die zelebriert wird, diszipliniert. „Sehr geehrtes Fräulein Verena“, schreibt Christange einer Abiturientin, die ihm per Post unterstellt hat, dass er gar nicht im Westen ankommen will, „wir leben in einem Staat, aber noch nicht in einer Gesellschaft.“

Er und Stenzel haben Zeit. Sie müssen nicht spontan reagieren. Während sie tagelang überlegen, kühlen Emotionen ab. „Laterne, Laterne“, schreibt Stenzel über seine Post – weil Martinstag ist. Christange erzählt vom Urlaub in Thüringen, wohin er und seine Frau seit 1972 reisen. Von seinem Sohn André, der während der Berufsausbildung mit Abitur im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, in einer Musikgruppe Cello spielte. Er erwähnt, wenn der 1. Mai, der Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, naht. Oder merkt an, der wievielte Jahrestag der Oktoberrevolution gerade verstreicht. Stenzel antwortet: „Daher verbleiben meine Schüler und ich mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Familie!“

Schon als Jugendlicher war Stenzel froh, nicht in der sowjetischen Besatzungszone zu leben. Mit 25 trat er in die SPD ein. Die Partei hatte Kontakte nach drüben, für ihn war die DDR lediglich Transitverkehr. Als die Mauer fiel, war das eine Chance. Stenzel will die Chance nutzen. „In der politischen Auseinandersetzung gibt es wohl Gegner, aber keine Feinde“, belehrt er seinen Briefpartner. „Feinde müssen vernichtet, Gegner jedoch gehört und fair behandelt werden.“ Er wirft sich schützend vor seine Schüler: „Lassen Sie einer 17-Jährigen ihr Recht auf Empörung über die Stasi-Methoden!“

Christange jedoch merkt: Die Schüler nehmen seine DDR wie ein beliebiges Ereignis und ordnen es in die Historie ein. Sie betrachten sein Land aus der Ferne: Sprechen von Würde des Menschen, ohne die Menschen zu kennen, benutzen den Begriff Planwirtschaft wie ein Schimpfwort. Sie bereiten ihm schlaflose Nächte. Es sei unter seiner Würde, den „jungen westdeutschen Bürgern, die alles besser wissen“ zu antworten oder eine Entschuldigung zu akzeptieren, schreibt er einmal. „Können Sie sich vorstellen, dass einer Ihrer Abiturienten bei uns im Osten etwas findet, was er gut findet – auch für die alten Bundesländer?“

Hans Christange ist mit einem Feind groß geworden. Schon als Jugendlicher hat er aus Prinzip nie RIAS gehört. Beim Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953, den er für einen „von US-Konzernen mit gesteuerten Putsch“ hält, stellte er sich dem Staat für Wachaufgaben zur Verfügung. Als die Mauer gebaut wurde, stieß er einen Freudenschrei aus. Als sie fiel, war er traurig. Er setzt „Opfer“ des DDR-Staates in Anführungsstriche und „Wende“. Christange befindet sich seit 1990 in Feindesland. Mit Stenzel verständigt er sich, sie werden aber nie eins.

Bis auf ein Mal: Er sortiert alle Briefe, tippt handschriftliche ab, bittet einen Verlag um Veröffentlichung. Bekommt eine Absage. „Eventuell ist unsere einfache Schreibart für Anforderungen des Verlages unzureichend“, schreibt er an Klaus Stenzel. „Irgendwie habe ich aber auch den Eindruck, dass entweder kein Blick oder mindestens etliche Blicke zu wenig in das Material geworfen wurden.“ Sie sind jetzt gemeinsam traurig. „Also unverzagt weiter!!“, ruft Christange.

Unverzagt? „Ja, glauben Sie denn, es gäbe bei Ihnen keine ideologische Determination zu Ihren Ansichten? Darum geht doch wohl unser gesamter Briefverkehr“, schimpft Ost im Februar 05. „Ihr Brief zeugt von einer unerträglichen Schwarz-Weiß-Malerei, die wir doch überwunden hatten, so schien es mir jedenfalls“, kontert West im März 06. Zum zehnten Briefjahr schickt West Glückwünsche. Ost antwortet: „Ich glaube im Prinzip, wir könnten in Zukunft an einem Strang ziehen. Was uns wahrscheinlich weiter trennt, ist die wohl sehr unterschiedliche Sicht auf die Vergangenheit.“

Ende letzten Jahres haben Stenzel und Christange im Eigenverlag nun doch ein Buch herausgebracht. „Denkstrukturen West-Ost“ ist zuweilen eine Tortur, ein unablässige Abgrasen der Missverständnisse. „Keine Annäherung, ein Austausch“, sagt Stenzel.

Ob sich Ost und West voneinander erzählen, einander zuhören, ist letztlich eine Frage der Bedingungen, der Methode, der Kraftreserven, der Ausdauer. Bei der Wiedervereinigung handelt es sich um ein Rennen, das von der Hoffnung auf Sieg lebt. Für Stenzel ist der Plan mit dem Tellerrand aufgegangen. Er habe einen erweiterten Horizont, sagt er. Man könne die Ereignisse in der DDR nicht nur geschichtlich betrachten. Es gab dort ein Leben, es wurde mit bescheidenen Mitteln etwas aufgebaut, es wurde was geleistet. Christange hingegen hängt an seiner Version der Geschichte. Er hat Bestätigung gefunden: darin, dass der Westen sie mit ihm nicht teilt.

Manchmal guckt Stenzels Frau ihrem Mann über die Schulter, wenn er in Speyer über den Briefen grübelt. Dann sagt sie: „Ach lass, Klaus, ihr habt wohl beide ein bisschen recht.“

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