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Schwierige Phase bis zum Brexit.

© Jens Kalaene/dpa

Großbritannien und die EU: Das englische Gift im Brexit

Der Optimismus schwindet: Warum die Verhandlungen zwischen London und der Europäischen Union sich immer schwieriger gestalten werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albert Funk

Auf der Insel wird jetzt darüber debattiert, ob bei den „Proms“, den populären und lockeren Sommer-Konzerten in der Royal Albert Hall, das Wedeln mit der EU-Flagge getadelt werden soll. „Wird auch Zeit“, twitterte Nigel Farage, der Großguru der radikalen britischen Europa-Gegner. Immerhin steht die Ode an die Freude von Beethoven, die Europa-Hymne, noch auf dem Programm der „Proms“.

Das Lachen vergeht einem allerdings bei der Lektüre der neuesten Umfrage des YouGov-Instituts. Sie deutet darauf hin, dass sich die Fronten in Großbritannien verhärten – ein Jahr nach dem knappen EU-Referendum. Demnach sind 61 Prozent derer, die den EU-Austritt befürworten, der Meinung, ein „erheblicher Schaden“ für die britische Wirtschaft sei ein Preis, den man für den Brexit zahlen sollte.

Sich selber schaden ist üblicherweise kein Ausweis von Vernunft. Aber es kommt noch dicker: 39 Prozent dieser Austrittsbefürworter (und damit eine Zahl, die potenziell für das knappe Ergebnis des Referendums von Bedeutung ist) würden es in Kauf nehmen, wenn sie selbst oder ein Familienmitglied in Folge des Brexits den Job verlieren. Vor allem EU-Gegner im Rentenalter würden es akzeptieren, wenn es nach einem Brexit dem eigenen Land schlechter ginge (71 Prozent) oder ein Familienmitglied, also Sohn, Tochter, Enkel, arbeitslos würde (50 Prozent).

Man hofft geradezu, dass dieser Ausdruck von Unverstand eine demoskopische Fehlmessung ist. Das gilt auch für den Umstand, dass EU-Befürworter, wenn auch in geringerem Ausmaß, sich für die Zeit nach dem Austritt schlechtere wirtschaftliche Verhältnisse wünschen, damit die Brexiter es lernen - was, wie gesehen, ohnehin eine vergebliche Erwartung ist.

Je englischer, je brexitfreundlicher

Eine aktuelle Studie zu den Beweggründen für das Votum vor einem Jahr bringt weitere unangenehme Erkenntnisse. Dass Zuwanderung (und damit zu einem Teil jedenfalls Abneigung gegen Fremde) eine große Rolle bei der Entscheidung der Brexit-Befürworter gespielt hat, ist bekannt. Es ist eine Folge der britischen Entscheidung, nach der Erweiterung der EU den Zugang zum Arbeitsmarkt für Osteuropäer stärker zu öffnen als etwa Deutschland es getan hat.

Zwei weitere Ergebnisse: Je größer das Misstrauen gegenüber der eigenen Regierung und dem Unterhaus ist, je stärker ist die Brexit-Neigung. Und: Je englischer sich Wähler fühlen, umso stärker neigen sie zum Brexit-Votum. Aber je britischer sie denken, umso größer ist die Neigung, in der EU zu bleiben.

Es ist wohl so: Ein latent aggressiver englischer Nationalismus, der fremdenfeindlich ist und im wahrsten Sinne des Wortes keine Verwandten kennt, ist das Gift, das im Brexit steckt. Und es ist keine kleine Minderheit, die von diesem Gift angesteckt ist. Unter Geringverdienern und Leuten mit geringerer Bildung scheint es stärker zu wirken. Man kennt das aus der europäischen Geschichte. Die englische Gesellschaft aber ist jene, die in Westeuropa in den vergangenen Jahrzehnten das höchste Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit entwickelt hat.

Ein "Lackmustest" für die EU?

Der Autor der Studie, der anerkannte Politologe John Curtice, spielt in seiner Zusammenfassung merkwürdigerweise die deutlichen Signale für eine Radikalisierung in der Bevölkerung herunter. Die Schlussbemerkung lässt aufhorchen: Das Referendum, schreibt Curtice, sei ein "Lackmustest" für die EU gewesen - ein Test, den die Gemeinschaft nach Ansicht einer Mehrheit der Briten nicht bestanden hat. Der Grund für den Austritt ist also nicht in Großbritannien zu suchen, sondern in der EU - von der viele Austrittsbefürworter freilich gar keine richtige Vorstellung haben, was Curtice selber feststellt.

Von dieser Stimmung werden die Verhandlungen mit der EU geprägt. Beide großen Parteien nehmen Rücksicht auf dieses nationalistische Potenzial der Europa-Gegner und EU-Hasser - Labour mit Blick auf die Arbeiterschaft, die Tories eher mit Rücksicht auf die Mittelschicht. Die Verantwortlichen in Westminster, Premierministerin Theresa May genauso wie Labour-Chef Jeremy Corbyn, die konservativen Brexit-Hardliner genauso wie die linken EU-Gegner, wissen dabei längst, dass sich Großbritannien verrannt hat.

Ihnen dämmert auch, dass es zwischen einem wirklich harten Brexit, dem Austritt ohne vernünftige Vereinbarung zu den künftigen Beziehungen zur EU, und dem Verbleib in der Union, nichts mehr gibt. Denn sie haben es geschafft, in einem aberwitzigen Streit innerhalb der Parteien und zwischen ihnen alle Kompromissvarianten in Zweifel zu ziehen, die sich nun nicht mehr ausräumen lassen.

Geht nicht, geht nicht, geht nicht

Jede Lösung, die eine Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt zum Ziel hat oder zumindest eine enge Einbindung - geht nicht, weil man dann EU-Regeln einhalten muss. Weitere Mitgliedschaft oder Einbindung in der EU-Zollunion - geht nicht, weil man dann nicht souverän Handelsverträge abschließen kann. Außerdem ist in beiden Fällen der Europäische Gerichtshof eine Instanz, die man anerkennen muss - geht auch nicht, denn wo bleibt dann die nationale Souveränität (noch so ein Giftbegriff, der durch die europäische Geschichte geistert).

In beiden Fällen, Binnenmarkt wie Zollunion, ist eine weitere Zuwanderung aus der EU Vorbedingung für ein Einlenken in Brüssel - auch nicht zu akzeptieren. Aber man wünscht schon jetzt eine Übergangsperiode nach dem Austritt, der ja auf eigenen Antrag hin 2019 fällig wird. Wie die Übergangsvereinbarung aussehen soll, darüber streitet man in London. Europa darf zuschauen.

Die britischen Verhandler werden, in einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Verzweiflung, darauf setzen, dass die EU-Seite, in einer Mischung aus rationaler Einsicht und Entnervtheit, irgendwie entgegenkommt. Durch „muddling through“ und Rosinenpickerei soll ein Status erreicht werden, der in Großbritannien als großer Austrittsakt verkauft werden kann, der tatsächlich aber dem eigenen Land schaden wird. Weil ökonomisch alles schlechter ist als die Mitgliedschaft in der EU. Im Übrigen wird das auch den EU-Partnern schaden, aber das ist in London allenfalls ein Kollateralaspekt.

Tritt dieser wirtschaftliche Schaden dann ein, wird natürlich all jene, die jetzt in Umfragen sagen, sie würden den Preis zahlen, und wenn es der eigene Job ist, der Mut verlassen. Die Schuld an den wirtschaftlichen Folgen wird dann von den Verantwortlichen in London der bösen EU zugeschoben werden, die sich unvernünftig und unpartnerschaftlich verhalten hat. Brüssel war’s, heißt es dann – wie gut, dass wir draußen sind.

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