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Stalin und NS-Außenminister von Ribbentrop im August 1939 in Moskau. Das Foto stammt aus dem Bildband "Der Fall Barbarossa", Verlag Das Neue Berlin.

© dpa

Hitler-Stalin-Pakt: Nichts gelernt aus der Geschichte

Vor 75 Jahren wurde der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen. Im heutigen Russland ist der Gedanke an eine "Schuld" Stalins in weite Ferne gerückt. So kann auch Russlands Präsident Putin frei von inländischem Widerspruch die machtpolitische Karte ziehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Bernhard Schulz

Die Nachricht war eine Sensation. Der „Völkische Beobachter“, Zentralblatt des Nazi-Regimes, meldete bereits am Vortag, der „Reichsminister des Auswärtigen“ werde „am Mittwoch, dem 23. August, in Moskau eintreffen, um die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen“. Welche Verhandlungen? Und schon deren „Abschluss“? Die Schlagzeile lautete schlicht, „Nichtangriffspakt Deutschland – Sowjetunion“. Nicht einmal für die sonst übliche Bezeichnung „Deutsches Reich“ blieb Platz.

Kein anderes Ereignis hat Europa im 20. Jahrhundert unvermittelter getroffen und verändert als der Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 zwischen den beiden doch zutiefst verfeindeten Staaten. Zu Recht ist er als Hitler-Stalin-Pakt im Gedächtnis, denn es waren die beiden Diktatoren, die ihn vereinbarten; in der Absicht, den anderen über den Tisch zu ziehen. Hitler hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er „Lebensraum im Osten“ beanspruchte. Stalin hingegen hoffte, die kapitalistischen Staaten gegeneinander ausspielen und Hitler im Krieg gegen den Westen binden zu können. Nichts geschah exakt so, wie die beiden Protagonisten es ausgedacht hatten – bis auf den Anfang: Erstes Opfer wurde Polen, zerteilt zwischen seinen Nachbarn.

Frage der Verantwortung

Die furchtbaren Ereignisse, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durchziehen, stellen unablässig die Frage nach der Verantwortung, moralisch formuliert: nach der Schuld der Akteure wie auch der der passiven Mitläufer. Dem Historiker muss diese Frage fremd bleiben, sofern er sich an Rankes Diktum hält, aufzuschreiben, „wie es eigentlich gewesen ist“. Das ist für das vergangene Jahrhundert weit schwieriger als für die Zeit Rankes. Was „eigentlich gewesen ist“, folgte oft genug aus bösen Absichten. Die politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts fordern unabweisbar, Schuld und mit ihr Strafe und Sühne als Kategorien der Geschichtsbetrachtung anzuerkennen.

Daraus wiederum folgt das Postulat, aus der Geschichte zu lernen, damit sie sich nicht wiederhole – ein für frühere Zeiten ganz unverständlicher Gedanke. Wir aber können Geschichte ohne Moral nicht mehr denken. Oder nur wir Deutschen? Die wir das Eingreifen auf dem Balkan mit dem, pardon, Schlachtwort „Nie wieder Auschwitz“ konsensfähig machten? Im heutigen Russland jedenfalls ist der Gedanke an eine „Schuld“ des großen Stalin weit in die Ferne gerückt. Der Sieg über den „Hitlerfaschismus“ rechtfertigt alle Untaten des Diktators.

Viele Russen wollen Putin als würdigen Stalin-Nachfolger sehen

So kann heute auch Russlands Präsident Putin frei von inländischem Widerspruch die machtpolitische Karte ziehen. Die Einverleibung der Krim zeigt ihn auf dem Weg zum würdigen Stalin-Nachfolger, den viele in Russland in ihm sehen wollen. Im Osten der Ukraine sind russische Freischärler aktiv, so wie die Rote Armee 1939 in Polen einmarschierte, um „den von Deutschland bedrohten Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe zu kommen“, wie Stalins Außenminister Molotow beschwichtigend erklärte.

Der Hitler-Stalin-Pakt bahnte den Weg vom europäischen zum Weltkrieg, den Hitler mit dem Einfall in die Sowjetunion besiegelte. Zwei Jahre nur hatte der Vertrag gehalten. An der Schuld, der bösen Absicht beider Protagonisten gibt es keinen Zweifel. Stalin gab Hitler Zeit zum Aufmarsch, Hitler öffnete Stalin den Weg nach Mitteleuropa. Weder einen solchen Vertrag noch überhaupt Krieg als Mittel der Politik darf es jemals wieder geben. Gewiss, nur eine fromme Hoffnung – und dennoch die Lehre, die die Welt aus dem 23. 8. 1939 ziehen muss, Putin inklusive.

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