zum Hauptinhalt

Innerdeutsche Grenze: Opfern ein Gesicht geben

Noch immer gibt es keine verlässlichen Angaben über die Zahl der Todesopfer an der innerdeutschen Grenze. Ein Forschungsprojekt soll das nun klären. Was genau ist geplant?

Stacheldraht im Niemandsland. Scharfe Hunde, versteckte Minen, getarnte Selbstschussanlagen – bis zum Jahr 1989 erstreckte sich auf rund 1400 Kilometern Länge, von der Rhön im Süden bis zur Lübecker Bucht im Norden, quer durch Deutschland der Todesstreifen des DDR-Regimes. Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist noch immer unklar, wie viele Menschen ihren Versuch, die ehemalige Frontlinie zwischen Ostblock und westlicher Welt zu überwinden, mit dem Leben bezahlten.

Ein Forschungs- und Dokumentationsprojekt im Auftrag von Bund und Ländern soll die Zahl aller Opfer der innerdeutschen Grenze jetzt erstmals wissenschaftlich fundiert dokumentieren. Auftraggeber der Studie sind Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sowie die Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen. Das Projekt steht unter der Leitung des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU-Berlin. Am gestrigen Freitag, wenige Tage vor dem 51. Jahrestag des Mauerbaus vom 13. August 1961, wurde es in der Berliner Mauer-Gedenkstätte vorgestellt. Die Ergebnisse sollen nicht nur Klarheit über die Zahl der Opfer bringen, „sondern den Toten Namen, Gesicht und damit ihre Würde wiedergeben“, sagte Neumann. Die Geschichten der Todesfälle sollen nach seinen Worten daran erinnern, wie brutal sich die Diktatur und das unmenschliche Grenzregime auf die Menschen in Deutschland ausgewirkt haben.

In der Vergangenheit hatte der Bund das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) bereits mit Forschungen zu den Opfern an der Berliner Mauer beauftragt. Vor drei Jahren wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Demnach starben an der Berliner Mauer zwischen 1961 bis 1989 mindestens 136 Menschen. Dagegen sind die Schicksale der Opfer an der innerdeutschen Grenze noch nicht grundlegend erfasst. „Es scheint, dass es einen gewissen Abstand braucht, um solche Dinge objektiv und wissenschaftlich mit kühlem Kopf aufzuarbeiten“, erklärte Neumann. Zudem würden erst jetzt weitere Akten zutage kommen.

Der Bund steuert 355 000 Euro zu dem auf dreieinhalb Jahre angelegten Projekt bei. Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen stocken den Etat auf insgesamt 500 000 Euro auf. Ehemalige Grenzländer wie Bayern, Thüringen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern beteiligen sich nicht. Sie haben zum Teil eigene Untersuchungen angestellt. Die Ergebnisse sollen in das Projekt einfließen, so Neumann. Er bedauerte, dass sich nicht mehr Länder beteiligen. „Es ist eine nationale Aufgabe, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten.“

Geleitet wird die Studie von Klaus Schroeder, Chef des Forschungsverbunds SED-Staat. Bis Ende 2015 werden er und fünf weitere Wissenschaftler unter anderem in Archiven von Grenz- und Volkspolizei, der Stasiunterlagenbehörde oder des Bundesgrenzschutzes nach Hinweisen suchen. Sie wollen Daten aus Ost und West abgleichen. Geplant sei später, Zeitzeugen um Mithilfe zu bitten. „Schon seit das Projekt bekannt ist, bekommen wir Briefe“, sagte Schroeder. Menschen berichteten von verschollenen Freunden. Andere meldeten sich, weil sie versehentlich auf den Listen stehen, ihren Fluchtversuch aber überlebten.

Schroeder rechnet mit 500 bis 700 Menschen, die bei der Flucht ihr Leben ließen. Es sind Verdachtsfälle. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Zählungen des privat betriebenen Berliner Museums am Checkpoint Charlie gehen von 1676 Fällen an der innerdeutschen Grenze zwischen 1945 und 1989 aus. Ob sie wissenschaftlichen Standards genügen, ist umstritten. Die Berliner Forscher beleuchten lediglich die Jahre von 1949 bis 1989. Auch nicht berücksichtigt werden Todesfälle in der Ostsee, weil der Rechercheaufwand zu hoch sei, sagte Schroeder. Frühere Erhebungen gingen von immerhin mehr als 250 Verdachtsfällen bei Fluchten über die Ostsee aus.

Zudem stehen die Forscher vor einer Definitionsfrage: Ist ein Reisender, der bei einer Passkontrolle an einem Herzinfarkt stirbt, ein Opfer? Nach einem Verhör schon, so Schroeder. „Man muss sehen, was wissenschaftlich seriös ist.“ Jeder Einzelfall soll geprüft werden. Grenzsoldaten, die bei ihrer Arbeit ums Leben kamen, sollen gesondert aufgeführt werden.

Sämtliche Forschungen werden in ein Online-Dokumentationszentrum münden. Umfangreiches Material soll ins Netz gestellt werden, damit auch Schüler im Politik-Unterricht darauf zugreifen können. Zudem ist – ähnlich wie bei den Maueropfern – ein Totenbuch geplant, das die Schicksale der Opfer beleuchtet.

Die Forscher wollen auch die Täter-Seite untersuchen. Das DDR-Regime habe ein dichtes Bespitzelungsnetz in Grenznähe gestrickt. Allein in den Jahren 1974 bis 1979 wurden von knapp 5000 Fluchtwilligen schon 4000 weit vor der Grenze gestoppt. Nur 229 Menschen sei die Flucht geglückt, so Schroeder. Andere traten auf Minen, blieben im Stacheldraht hängen oder starben im Kugelhagel der Grenzer. Neben den Soldaten zählten offenbar auch Passkontrolleure und Zöllner zu den Mördern, sagte Schroeder. „Das wäre brisant.“ Viele von ihnen wurden nach der Wiedervereinigung von der Bundesrepublik im öffentlichen Dienst weiterbeschäftigt. „Das könnten Leute sein, die direkt am Tod von Flüchtlingen beteiligt waren.“

Zur Startseite