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Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist seit dem 17. Dezember 2013 zum zweiten Mal Bundesminister des Auswärtigen.

© Mike Wolff

Interview mit Außenminister Steinmeier: "Es bringt nichts, den Konflikt mit der Türkei anzuheizen"

Außenminister Frank-Walter Steinmeier über den EU-Türkei-Deal, Sanktionen gegen Russland und die Debatte um SPD-Chef Sigmar Gabriel.

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Herr Minister, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei steht vor dem Scheitern. Müssen wir uns darauf einstellen, dass bald wieder Hunderttausende Flüchtlinge kommen?

Vor dem Flüchtlingsabkommen hat man der Bundesregierung vorgeworfen, machtlos zuzusehen, wie täglich bis zu zehntausend Menschen Deutschlands Grenzen überqueren. Als wir mit der Türkei anfingen, über ein Abkommen zu verhandeln, haben viele orakelt, die Vereinbarung werde nie zustande kommen. Sobald sie unterschrieben war, wurde behauptet, die Türkei werde sich nicht daran halten. Fakt ist: das Abkommen wirkt. Ob es dauerhaft zur Reduzierung des Migrationsdrucks aus dem Mittleren Osten und Zentralasien kommt, hängt davon ab, ob beide Seiten – Europa und Türkei – zu dem Abkommen stehen.

Liegt der Rückgang der Flüchtlingszahlen nicht auch an den  Grenzschließungen auf der Balkanroute?

So möchten es unsere österreichischen Nachbarn gerne sehen. Nur kamen deshalb nicht weniger ‎Flüchtlinge nach Europa. Sie strandeten zu Zehntausenden in Griechenland. Ein unhaltbarer Zustand. Erst das Abkommen mit der Türkei sorgt dafür, dass sich viel weniger Flüchtlinge als vorher auf den gefährlichen Weg über die Ägäis machen. Die Türkei ihrerseits bringt Flüchtlinge aus Syrien unter und öffnet den Arbeitsmarkt für sie. Umgekehrt hilft die EU den Flüchtlingen in der Türkei mit drei Milliarden Euro und hat weitere drei Milliarden in Aussicht gestellt. Das ist die gemeinsame Basis, hieran müssen wir weiter arbeiten.

Nun droht die Türkei aber, die Flüchtlinge nach Europa zu schicken, wenn die EU keine Visafreiheit gewährt. Sitzt Präsident Erdogan am längeren Hebel?

Die EU hat in dem Abkommen das Angebot unterbreitet, dass jeder türkische Staatsbürger mit einem biometrischen Pass 90 Tage visafrei in den Schengenraum reisen kann. Die EU hat das an 72 Bedingungen geknüpft. Wenn die Bedingungen vollständig erfüllt werden, kann die Türkei zurecht erwarten, dass wir uns an unsere Verpflichtungen halten und die von uns angebotenen Visaerleichterungen umsetzen.

Zentrale Bedingung der EU ist die Entschärfung der türkischen  Anti-Terror-Gesetze, auf deren Grundlage Kritiker willkürlich als Terroristen eingestuft werden können. Kann es in dieser Frage Kompromisse geben?

Die Bedingungen sind bekannt und waren mit der Türkei ausgehandelt. Neue sind nicht nachträglich hinzugefügt worden. Der Ball liegt jetzt im türkischen Spielfeld. Ankara muss uns sagen, wie es gedenkt, die offenen Fragen zu beantworten.

Erdogan will die Terror-Gesetze aber nicht ändern und verbittet sich jede Einmischung…

Ich rate, das Interesse der Türkei an dem Abkommen insgesamt und der Visa-Freiheit insbesondere nicht zu unterschätzen. Die Türkei weiß, was zu tun ist. Es bringt überhaupt nichts, den Konflikt von hier aus anzuheizen.

Eine Mehrheit der Deutschen missbilligt laut Umfragen das Flüchtlingsabkommen. Viele haben den Eindruck, die Bundesregierung kusche vor Erdogan, solange er nur die Flüchtlinge  fernhält. Beeindruckt Sie das nicht?

Nein, denn das trifft nicht zu. Wir nehmen uns weiter die Freiheit, über Fehlentwicklungen in der Türkei, über Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit zu reden. Das kann auch jeder hören, der zuhören will. Dennoch: öffentliche Kritik allein löst Probleme nicht. Wir werden weiter mit der Türkei im Gespräch bleiben und bleiben müssen. Denn ob wir wollen oder nicht: die Türkei bleibt das Schlüsselland für Migration nach Europa. Wir brauchen ein Maß an Kooperation, wenn wir Zustände vermeiden wollen, wie wir sie im letzten Jahr hatten.

Seit seinem Wahlsieg 2011 kümmert sich Erdogan nicht mehr groß um die Europäer.
Seit seinem Wahlsieg 2011 kümmert sich Erdogan nicht mehr groß um die Europäer.

© REUTERS

Der Bundestag will bald eine Resolution zu den Vertreibungen und Massenmorden in Armenien im Ersten Weltkrieg verabschieden, in dem er das Geschehen klar als Völkermord bezeichnet. Sie waren anfangs dagegen. Warum?

Ich habe darauf gesetzt, dass wir Türken und Armenier zu einer gemeinsamen Aufarbeitung des Geschehens und für eine Annäherung gewinnen können. Das ist nicht einfach in einer Situation, in der auch 100 Jahre danach Fakten, Geschichte und Vorgeschichte, Geschichtsschreibung, Sätze und Halbsätze zwischen Eriwan und  Ankara im Streit sind. Ich habe es für unklug gehalten, diesen höchst sensiblen Prozess von außen zu gefährden und ich befürchte: allein mit der Entscheidung für den Genozidbegriff ist es nicht getan.

Und nun? Stimmen Sie als Abgeordneter im Bundestag zu?

Seien Sie sicher, dass die SPD in dieser Frage im Bundestag geschlossen abstimmen wird.

Die Türkei protestiert schon im Vorfeld. Wird die Resolution zu Spannungen mit Ankara führen?

Ich hoffe, dass die deutsch-türkischen Beziehungen durch die Resolution nicht belastet werden und wir weiter gut zusammenarbeiten können. Wir werden uns jedenfalls auch weiterhin gegenüber der Türkei und Armenien für eine in die Zukunft weisende Versöhnung und Verständigung einsetzen: Zum Beispiel durch grenzüberschreitende Projekte, die zwischenmenschliche Begegnungen zwischen Armeniern und Türken fördern.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch behauptet, an der türkisch-syrischen Grenze würden türkische Grenzer auf Flüchtende schießen, sogar auf Frauen und Kinder. Wie wird Deutschland reagieren, wenn sich das bestätigt?

Das sind alarmierende Vorwürfe, die aufgeklärt gehören. Ankara selbst muss ein Interesse an der Aufklärung dieser Vorwürfe haben.

Der Bürgerkrieg in Syrien ist derzeit die größte Fluchtursache. Glauben Sie noch an ein belastbares Friedensabkommen in diesem Jahr?

Vor drei Monaten hätte es doch niemand für möglich gehalten, dass eine Waffenruhe gelingen würde. Seitdem haben wir gesehen, dass die Gesprächskanäle, die wir in Wien und München geschaffen haben, tatsächlich etwas bewirken können. Die Kampfintensität ist inzwischen erheblich reduziert, allerdings ist nicht im ganzen Land Ruhe eingekehrt. Insofern müssen weitere Schritte gelingen, auch wenn es schwierig bleibt, weitere Städte und Regionen in die Waffenruhe einzubeziehen. So unvollkommen der Waffenstillstand ist, so wenig wir uns mit den bisher erreichten humanitären Zugängen zufrieden geben können: für die Menschen in Syrien ist viel erreicht, viele ziehen in ihre Häuser zurück. Über 800.000 Menschen, die seit Wochen und Monaten von der Außenwelt abgeschnitten waren, sind seit Februar mit humanitärer Hilfe erreicht worden.

Aber der Waffenstillstand wird doch dauernd gebrochen…

Es ist richtig, dass der Waffenstillstand im Raum Aleppo massiv verletzt wurde. Aber unser Treffen am vergangenen Montag in Paris, insbesondere die direkten Gespräche von Amerikanern und Russen, haben in den letzten Tagen doch eine ganz erhebliche Reduktion der Gewalt gebracht und eine neue drohende Gewaltspirale zumindest für den Augenblickt gestoppt.

Einer Trümmerlandschaft gleich die Altstadt von Aleppo.
Einer Trümmerlandschaft gleich die Altstadt von Aleppo.

© Abdalrhman Ismail/Reuters

Kann es in Syrien Frieden geben, wenn Assad an der Macht bleibt?

Auf Dauer sicher nicht. Deshalb geht es in der kommenden Verhandlungsphase nun darum, an der in Aussicht gestellten Übergangsregierung zu arbeiten. Am Dienstag treffen wir uns in Wien in der Syrien-Kontaktgruppe. Wichtigstes Ziel muss sein, die Bedingungen dafür  zu schaffen, dass die Verhandlungen von Genf über einen politischen Prozess wieder aufgenommen werden können.

Bei der Lösung des Syrienkonflikts spielt Russland eine Schlüsselrolle, in anderen internationalen Konflikten auch. Muss Deutschland helfen, Moskau wieder aus der Isolation zu holen?

Jedenfalls ist Isolation noch keine Politik. Wir haben doch unterschiedliche Erfahrungen mit Russland gemacht: Auf der einen Seite die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und die Destabilisierung der Ostukraine. Fast zur selben Zeit hat Russland aber auch dazu beigetragen, die Verhandlungen um den iranischen Atomkonflikt zum Erfolg zu bringen. Mit ein wenig Realismus erkennt jeder: Wir brauchen Russland bei der Bewältigung der großen internationalen Krisenherde. In Syrien ist das mittlerweile zu einer nicht mehr bestrittenen Selbstverständlichkeit geworden. Und ich wage vorauszusagen, bei den Bemühungen um eine Stabilisierung Libyens werden wir Russland ebenfalls brauchen und einbeziehen müssen.

Sie plädieren immer wieder dafür, dass Russland in die G 8 zurückkehrt. Warum?

Es wird immer so getan, als sei es ein Geschenk an Russland, in bestimmten Foren vertreten zu sein. Wir vergessen gelegentlich, warum es auch in unserem Interesse liegt, Russland in eine internationale Verantwortungspartnerschaft zu bringen. Diese Partnerschaft ist zweifellos belastet. Aber gerade in Krisenzeiten sind Formate wichtig, in denen wir die gemeinsame Sprachlosigkeit überwinden und an den Verhandlungstisch zurückkehren können. Es gibt keine überzeugenden historischen Beispiele dafür, dass die Isolierung und Abschottung uns dem Frieden in der Welt näher gebracht hätten. Deshalb sollten die wichtigsten Industrieländer der Welt ein Interesse daran haben, dass Russland in den Kreis der G 8 zurückkehrt, wenn etwa Russland seinen Teil zur Umsetzung des Minsker Abkommen beiträgt.

Im Juni laufen die EU-Sanktionen gegen Russland aus. Wird es noch einmal gelingen, die 28 Staaten zu einer Verlängerung zu bewegen?

Wir merken, dass die Widerstände in der EU gegen eine Verlängerung der Sanktionen (gegen Russland) gewachsen sind und dass es gegenüber dem letzten Jahr schwieriger sein wird, hierzu eine geschlossene Haltung zu finden. Auch wenn es anstrengend wird: um diese geschlossene Haltung werden wir uns bemühen müssen.

Herr Steinmeier, Sie haben es in und mit der SPD zu einem der beliebtesten Politiker in Deutschland gebracht. Warum helfen Sie der Partei nun nicht aus der Not?

Helfen kann man am wirksamsten, indem man das tut, was man am besten kann - in meinem Fall gute Außenpolitik. Im Übrigen haben wir einen Parteivorsitzenden, er hat den Zugriff auf die Kanzlerkandidatur. Er hat auf der SPD-Gerechtigkeitskonferenz in dieser Woche erneut gezeigt, dass er Orientierung geben kann.

Trotzdem wächst in der SPD die Unzufriedenheit mit Gabriel. Wie passt das zusammen?

Keine Frage: die Partei befindet sich ohne Zweifel in einer schwierigen Lage und Sigmar Gabriel hat selbst gesagt, es sei normal, dass es in einer solchen Situation Debatten über Personen gibt. Fakt ist: Keiner hat sich um die Partei so verdient gemacht wie Sigmar Gabriel. Keiner hat mehr Rücksicht auf die Partei genommen und sie so gestärkt. Sigmar Gabriel hat dafür gesorgt, dass die SPD wieder diskutieren und mitreden kann, er hat die Parteistrukturen reformiert, den Parteitag erweitert und die Mitglieder stärker beteiligt. All das wird von manchen leider vergessen.  

Wenn Gabriel als Parteichef gehen sollte: Wäre Olaf Scholz oder Martin Schulz der bessere Nachfolger?

Das ist keine Frage, die sich stellt.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Hans Monath.

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