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Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir

© dpa

Interview mit Grünen-Chef Cem Özdemir: "Niemals und nirgends gibt es dafür eine Rechtfertigung"

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir spricht über die Aufarbeitung pädophiler Umtriebe in seiner Partei, Koalitionsoptionen der Grünen und die Aufklärung der NSA-BND-Affäre.

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Herr Özdemir, nun hat auch der Berliner Landesverband der Grünen einen erschreckenden Bericht zur Aufarbeitung pädophiler Umtriebe vorgelegt. Wird Ihre Partei das Thema jemals wieder los?

Nein, dieses Thema gehört bedauerlicherweise zur Gründungsgeschichte der Grünen. Als die Grünen sich mit der Jahrhundertidee Ökologie auf den Weg gemacht haben, gab es viele Trittbrettfahrer, die versucht haben mitzuschwimmen. Es war ein riesiger Fehler, dass die Partei sich damals nicht klar von den Forderungen der Pädophilen-Aktivisten abgegrenzt hat. Das müssen wir aufarbeiten. Und das tun wir auch.

Die Berliner Landesvorsitzende Bettina Jarasch sagt, sie schäme sich für das institutionelle Versagen der Grünen. Schämen Sie sich auch für Ihre Partei?
Bettina Jarasch hat die richtigen Worte gefunden, da finde ich mich wieder. Wir waren Teil eines Zeitgeists, der in Wahrheit ein Ungeist

war. Was unter dem Deckmantel der sexuellen Befreiung daherkam, war Gewalt gegen die schwächsten Opfer. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, niemals und nirgends.

Prominente Bundespolitiker der Grünen wie Renate Künast oder Hans-Christian Ströbele wirken seit Jahrzehnten im Berliner Landesverband. Wie kann es sein, dass sie von den Vorgängen nichts mitbekommen haben?
Der Vorstand bestand auch damals schon aus mehreren Personen und nicht aus einzelnen – heute prominenten – Gesichtern. Die Auseinandersetzungen wie mit der Indianerkommune, die für sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern warb, wurden in aller Öffentlichkeit auf Parteitagen ausgetragen. Viele Frauen haben klar gewarnt, aber wurden nicht gehört – aus einer falsch verstandenen Toleranz gegenüber Minderheitenmeinungen. Wir haben viel zu spät versucht, diese Leute rauszuwerfen. Mit pädosexuellen Tätern kann man nicht verhandeln, da ist die Polizei gefragt. Diese Erkenntnis hat sich bei den Grünen leider zu spät durchgesetzt.

Die Bundespartei hat zum ersten Mal finanzielle Zahlungen an Opfer in Aussicht gestellt. An wen richtet sich das?
Wir stellen uns unserer Verantwortung. Dazu kann auch gehören, Betroffenen eine Zahlung als Anerkennung ihres Leids zu leisten oder sie bei der Suche nach einem Therapieplatz zu beraten. Man muss sich jeden Einzelfall anschauen. Bei unserer Telefonhotline haben sich acht Betroffene gemeldet, in fünf Fällen gab es keinen Bezug zur grünen Partei. Mit den anderen sind wir im Gespräch.

Nun hat sich eine Sozialarbeiterin aus Kreuzberg zu Wort gemeldet, die die Zahl von 1000 Opfern in Berlin für realistisch hält. Erscheint der Widerstand der Grünen gegen diese Zahl nicht kleinkariert?
Weder Verharmlosung noch boulevardeske Zuspitzung oder Spekulationen helfen bei diesem ernsten Thema weiter. In Berlin gab es in Kreuzberg, Wedding und anderswo ein großes pädosexuelles Netzwerk. Da muss man mit vielen Betroffenen rechnen, aber nicht jeder Täter hatte ein grünes Parteibuch. Aber ich sage auch in aller Klarheit: Jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel. Die Vorstellung, dass einem Kind so etwas widerfährt, lässt einem das Blut gefrieren.

Kommen wir zu einem anderen Thema, bei dem die Grünen nicht in der Defensive sind, sondern angreifen. Wir reden von der BND/NSA-Affäre. Vergrößert sie die Kluft zwischen Deutschland und den USA?
Ich bin überzeugter Transatlantiker und habe immer dafür geworben, dass die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eng zusammenarbeiten und tue es noch immer. Die USA überschreiten rote Linien und sie tragen dazu bei, dass man bei Wirtschaftsspionage jetzt vor allem an sie denkt, nicht etwa an China. Die Bundesregierung sorgt sich vielleicht um zunehmenden Antiamerikanismus in Deutschland, dabei befördert sie den gerade durch ihr Verhalten in dieser Affäre.

Das müssen sie uns erklären.
Die Bundesregierung müsste dringend aufklären. Das tut sie aber nicht, stattdessen mauert sie und behindert die Aufklärung. So liefert sie den politischen Kräften Munition, die Deutschland und Amerika auseinandertreiben wollen, die die USA als Hort alles Bösen sehen und jede Art von nachrichtendienstlicher Arbeit für Teufelszeug halten. Die Bedrohung durch Terrorismus ist real. Deshalb werden wir auch ohne Geheimdienste nicht auskommen. Wir müssen aber darauf achten, dass dabei der Rechtsstaat nicht unter die Räder kommt.

Gibt es nicht ein eklatantes Machtgefälle zwischen Deutschland und den USA, sodass der kleinere Partner einen Graubereich von Spionage durch den großen dulden muss?
Selbstverständlich sind die Geheimdienste Deutschlands und der USA nicht auf Augenhöhe und sind wir angewiesen auf nachrichtendienstliche Unterstützung durch die USA. Was wir aber nicht dulden können, ist ein Graubereich von Spionage in Deutschland und Europa, der durch den Kampf gegen Terrorismus in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Ich bin zwar kein Jurist, aber das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist mir durchaus bekannt. Industriespionage und Abhören von EU-Freunden gehört jedenfalls nicht zu den Aufgaben von BND und NSA.

Nun soll ein Sonderermittler die NSA-Spähliste einsehen und bewerten. Reicht das?
Nein. Es bleibt dabei: Der Bundestag ist ein Verfassungsorgan, die gewählten Abgeordneten müssen Einblick in die Listen bekommen. Wir machen uns nicht zum Komplizen, wenn die große Koalition versucht, das Parlament zu entmachten. Wir werden uns mit allen Mitteln wehren. Wenn wir keinen Einblick in die Listen bekommen, werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

Die SPD warnt, die deutsche Kanzlerin dürfe nicht unterwürfig gegenüber den USA sein ...

Das ist nicht meine Sprache …

Spielt die SPD mit antiamerikanischen Tönen?
Ich hoffe, auch dort weiß man zwischen berechtigter Kritik und dem Schüren eines Feindbildes zu unterscheiden. Auch viele Amerikaner sind besorgt über das Eigenleben, dass die vielen Geheimdienste ihres Landes nach „nine eleven“ jenseits der politischen Kontrolle entwickelt haben. Die Aufklärung sollten wir nicht gegen die USA, sondern mit unseren Kollegen im US-Kongress vorantreiben.

Manche Beobachter meinen, SPD-Chef Sigmar Gabriel bereite mit seinen scharfen Tönen gegen die Kanzlerin in der BND/NSA-Affäre eine Bruchstelle der großen Koalition vor. Sind die Grünen bereit für Rot-Rot-Grün, wenn Gabriel springt? Wählen Sie ihn dann zum Kanzler?
Netter Versuch. Ich sehe nicht, dass dieses Regierungsbündnis auseinanderfällt. Die Umfragewerte der SPD sprechen ja auch nicht dafür, dass sie sich bei vorzeitigen Neuwahlen große Hoffnungen auf Zugewinne machen könnte.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat eine rot-rot-grüne Koalition ausgeschlossen. Hat er da recht?
Er spricht für Baden-Württemberg, und da kann ich ihn gut verstehen. Was die Koalitionsoptionen im Bund angeht, hat Winfried Kretschmann lediglich gesagt, er selber würde es nicht machen. Er muss es ja auch nicht machen.

Würden Sie es machen?
Wir wollen gestalten, das geht am besten in einer Regierung. Ich selber habe hart dafür gekämpft, dass wir grundsätzlich mehr Machtoptionen haben als nur die mit der SPD. Wir schauen uns die gesamte Landschaft an, am Ende geht es darum, mit wem wir grüne Inhalte voranbringen können. Die Linkspartei hat es doch selbst in der Hand, ob sie als vertrauenswürdiger Partner infrage kommt. Die Stichworte heißen ökologische Modernisierung, Umbau unserer Volkswirtschaft in Richtung Effizienz und Abkoppelung vom Ressourcenverbrauch, Einhaltung der Schuldenbremse, ein echtes Aufstiegsversprechen an Benachteiligte und außenpolitische Verlässlichkeit. Das sind wesentliche Parameter.

Ihr Parteifreund, der stellvertretende schleswig-holsteinische Ministerpräsident Robert Habeck, will sich einer Urwahl zum Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl stellen. Wollen Sie eine Urwahl?
Wenn es mehr als einen aussichtsreichen Kandidaten gibt, dann ist eine Urwahl sinnvoll. Mit ihr mobilisieren wir unsere Anhängerinnen und Anhänger und machen allen klar, dass es um die Wurst geht, in meinem Fall um Tofu.

Macht Ihnen Robert Habeck Konkurrenz?
Ich begrüße seine Kandidatur. Robert Habeck tut den Grünen in jeder Funktion gut, auch in Berlin.

Werden Sie gegen ihn antreten?
Ich werde auf dem Parteitag im November wieder zur Wahl als Bundesvorsitzender antreten. Dort wird neben dem Klimaschutz auch der Umbau unserer sozialen zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Das interessiert mich gerade, alles andere ist für mich derzeit zweitrangig.

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