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In der Türkei geht die Justiz immer härter gegen angebliche Islam-Feinde vor.

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Istanbul: Türkische Justiz geht gegen angebliche Islam-Feinde vor

In der Türkei hat die Justiz erneut angebliche Islam-Feinde ins Visier genommen. Jetzt geht es unter anderem gegen Betreiber und Nutzer einer beliebten Online-Plattform. Der Vorwurf: Gotteslästerung.

Die Istanbuler Staatsanwaltschaft verlangt Bewährungsstrafen von 9 bis zu 18 Monaten für den Betreiber einer beliebten Internetplattform und 39 Nutzer der Website. Die Beschuldigten sollen mit Gotteslästerungen die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten haben. Das Verfahren geht auf jenen Beschwerdeführer zurück, der auch den Prozess gegen den Pianisten Fazil Say wegen Islam-Beleidigung angestoßen hatte. Aber selbst ohne fromme Kläger ortet die türkische Justiz überall strafwürdige Übergriffe: Der Verleger und der Übersetzer eines Werkes von Guillaume Appollinaire sollen wegen Verbreitung von Pornographie in Haft kommen.

Die Islam-Beleidigungen sollen auf der Website „Eksi Sözlük“ aufgetaucht sein, einem bei türkischen Internetnutzern äußerst beliebten Gesprächsforum. Ali Emre Bukagili, ein frommer Geschäftsmann, teilte am Mittwoch per Twitter mit, die Justiz habe auf seinen Antrag hin „Autoren von Eksi Sözlük Einhalt geboten, die respektlose Dinge über religiöse Werte schreiben“.

Wie schon im Fall Fazil Say, dem die Verbreitung von Islam-Beleidigungen per Twitter vorgeworfen wurde, argumentiert Bukagili auch bei „Eksi Sözlük“, er unterstütze zwar die Meinungsfreiheit, aber nicht „Beleidigung, Hetze und Aufrufe zu Straftaten“. Leute wie Sedat Kapanoglu, der Betreiber von „Eksi Sözlük“, seien offenbar der Ansicht, dass man im Internet ungestraft Rechtsverstöße begehen könne, schrieb Bukagili. „Erst wenn sie Bekanntschaft mit der Justiz gemacht haben, werden sie erkennen, wie es wirklich ist, vorher nicht.“

Die Anklage stützt sich auf den Volksverhetzungs-Paragraphen 216 des türkischen Strafgesetzbuches. Um die Meinungsfreiheit zu stärken, hatte die Regierung im nächsten Paragraphen ausdrücklich festgeschrieben, dass Meinungsäußerungen innerhalb der Grenzen von „Information und Kritik“ hinzunehmen seien. Doch die Justiz zieht diese Grenzen sehr eng, besonders wenn es um Äußerungen über den Islam geht. Bei „Eksi Sözlük“ verweist die Staatsanwaltschaft sogar ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichts in Straßburg.

Fazil Say war im April in Istanbul zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden, weil er sich per Twitter unter anderem über die islamische Vorstellung von Jungfrauen und Wein im Paradies lustig gemacht hatte. Wegen eines Formfehlers wurde das Urteil jedoch aufgehoben; der Künstler soll nun ein neues Verfahren erhalten.

Nicht bei allen Beleidigungen nehmen es die türkischen Behörden so genau. Als ein Istanbuler Professor und Berater der Stadtverwaltung den Teilnehmern der regierungsfeindlichen Proteste vom Gezi-Park im Juni vorwarf, von „Juden, Armeniern und Griechen“ unterwandert zu sein und die nicht-muslimischen Minderheiten damit zu potenziellen Feinden des Staates erklärte, sah kein Staatsanwalt Anlass zum Einschreiten.

Gleichzeitig erklärte die Medienaufsicht RTÜK, die im Fernsehen erhobene Forderung eines islamistischen Kommentators, hochschwangere Frauen seien so unansehnlich, dass sie nicht auf die Straße gehörten, sei von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Moralische Bedenken haben türkische Gerichte schon eher bei Werken der Weltliteratur. Der Berufungsgerichtshof in Ankara hob jetzt den Freispruch für Verleger und Übersetzer des Buches „Die Großtaten eines jungen Don Juan“ von Appollinaire auf. Zur Begründung hieß es unter anderem, das Buch enthalte Schilderungen „lesbischer, unnatürlicher und mit Tieren vollzogener sexueller Beziehungen“.

Schon 1999 war in der Türkei ein Buch von Appollinaire verboten worden; es handelte sich um das Werk „11.000 Ruten“, das auch in Deutschland noch in den 1980er Jahren wegen angeblicher Gewaltpornographie beschlagnahmt worden war. Im Jahr 2010 erklärten die Straßburger Europarichter die türkische Beschlagnahmung für rechtswidrig und betonten, das Werk sei als Teil des Kulturerbes zu akzeptieren.

Bei Appollinaires „Don Juan“ schloss sich die erste Instanz in der Türkei der Straßburger Argumentation an und sprach Verleger Irfan Sanci und Übersetzer Ismail Yerguz frei. Doch nun sollen sie erneut vor Gericht, wo sie mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren zu rechnen haben. Der türkische Verlegerverband protestierte heftig und forderte die Regierung auf, alle Schranken für die Freiheit von Veröffentlichungen zu beseitigen. Geschehen ist bisher nichts.

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