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Joachim Gauck über Digitalisierung: "Umgang mit Datenschutz in Deutschland ist nicht frei von Heuchelei"

Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck warnt davor, sich von den technologischen Entwicklungen überrollen zu lassen. Der digitale Wandel müsse vom Menschen gestaltet werden.

Manchmal ist es das Unterbewusstsein, das uns auf die Sprünge hilft. So jedenfalls ging es mir kürzlich, als ich mich auf diese Rede vorbereitete. Ich hatte nämlich einen Traum, und der ging so:

Ein Freund fragt mich:

- Hast du schon die neue App?

- Welche App?

- Na, die mit den Biografien.

- Eine mit Biografien? Wozu ist die gut?

- Du kannst mit ihr die Biografien aller Menschen auf der Welt abrufen, zumindest

aller wichtigen. Und du kannst dich mit ihnen unterhalten.

Ungläubig fragte ich zurück:

- Ich könnte also mit allen großen Geistern kommunizieren?

- Ja, du könntest reden, mit wem du willst.

Und in diesem Augenblick, in dem ich beginne, mir vorzustellen, wie ich die Größen der Welt um mich versammele und ihr Wissen in mich aufnehme, - ja, wer würde ich dann sein? - in diesem Augenblick verlässt mich der Traum. Denn zu der Freude über derartige Begegnungen gesellt sich der Schrecken. Mir würden ja nicht nur die Guten begegnen - Philosophen, Schriftsteller, Forscher - , sondern auch die Bösen – Verbrecher, Mörder und Völkermörder. Und vor Schreck wachte ich auf. 

Danach, wach geworden, wurde mir plötzlich bewusst, warum ich dem Thema des digitalen Wandels über all die Jahre mit einer gewissen Distanz begegnet war. Theoretisch war mir Vieles klar. Schon vor mehreren Jahren habe ich öffentlich darüber gesprochen, dass die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt unwiderruflich verändern wird, auch das Verhältnis der Bürger zum Staat und selbst unser Bild vom Menschen – und dass uns eine menschenwürdige Gestaltung gelingen muss und wird. Aber wenn ich die Vor- und Nachteile der Entwicklung ganz tief in meinem Innern abwog, konnte ich ein gewisses Unbehagen nie ganz abschütteln: Wohin wird uns die Entwicklung führen? 

Ich glaube nicht, dass dieses Gefühl nur altersbedingt war. Es war gleichzeitig ein Gefühl kulturellen Unbehagens. Mein Verstand sagt mir: Wir dürften uns mit der Digitalisierung in einer Entwicklung befinden, die für den Menschen ähnlich weitreichende politische, wirtschaftliche und kulturelle Konsequenzen haben wird wie etwa die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg oder die Wandlungsprozesse in der industriellen Revolution. In beiden Fällen wurden die Lebensumstände der Menschen tiefgreifend und dauerhaft umgestaltet. Neue soziale Klassen bildeten sich heraus, verkrustete Herrschaftsgefüge kamen ins Wanken. Und letztlich nützte es keinem Herrscher, wenn er sich dem Zug der Zeit entgegenstellte und versuchte, ihn anzuhalten.

Mit der Digitalisierung haben sich neue Konfliktlagen angebahnt

Berühmt ist das Fehlurteil des deutschen Kaisers Wilhelm II., der vor einhundert Jahren erklärte: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Wie wir alle wissen: Es hat ihm nichts genützt, dass er den Kopf in den Sand steckte. Die Entwicklung ist einfach über ihn hinweg gegangen. Denn kein Wunschdenken vermag zu bannen, was der menschliche Geist einmal angestoßen hat und umzusetzen bestrebt ist. Lange schien das Thema Digitalisierung in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit eher ein Schattendasein zu führen. Doch inzwischen trauen sich Menschen kaum noch, mit ihrer Unwissenheit über das Netz öffentlich zu kokettieren. Die Kanzlerin, die das Internet noch vor vier Jahren als „Neuland“ bezeichnete“, folgte in diesem Jahr zum ersten Mal der Einladung zur Eröffnung der gamescom, der weltgrößten Messe für Computerspiele in Köln. Und sie glänzte mit einem Vortrag, in dem ein Wort nicht mehr zu finden war – terra incognita. Gastgeber Estland setzte die Digitalisierung Ende September 2017 sogar auf die Tagesordnung des Treffens der EU- Staatschefs. Denn der estnische Premierminister Juri Ratas ist gemeinsam mit seinen Landsleuten überzeugt: „Von der digitalen Lebensweise ist sehr viel zu erwarten, wenn wir sie auf die richtige Weise anschieben.“ 

Als ich das Land vor vier Jahren als Bundespräsident besuchte, beeindruckte mich der damalige Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves mit seinem Wissen in Technologiefragen und mit seiner Entschiedenheit, das Land durch einen digitalen Schub zukunftssicher und zu einem Vorreiter zu machen. Und tatsächlich zeigt Estland auf wunderbare Weise, dass in der digitalen Welt auch die Kleinen ganz groß und ein Vorbild sein können. Damals begriff ich, dass Geschichte selten Zeiten kennt, in denen man sich einfach zurücklehnen und verweilen kann. Auch mir war ja, wie gesagt, eine gewisse Verdrängung der digitalen Entwicklung zunächst nicht fremd. Hatte ich - hatten wir - mit der friedlichen Revolution nicht etwas viel Einschneidenderes, etwas singulär Spektakuläres erlebt? 

Doch während viele Europäer in Ost und West so noch das Ende des Kommunismus feierten und an den Sieg der Demokratie in weiteren Teilen der Erde glaubten, hatten sich mit der Globalisierung und der damit verbundenen Digitalisierung längst neue Konfliktlagen angebahnt. Toomas Hendrik Ilves, der in den USA aufwuchs, hat die Zeichen der neuen Zeit schneller verstanden als viele andere in Europa. Er hat wesentlich und gegen Widerstände dazu beigetragen, in seinem Land eine Demokratie aufzubauen, die auf dem höchsten Level der Technologie beruht. Jeder Bürger verfügt über eine elektronische Identitätskarte, mit der er große Teile seines sozialen Lebens mit kleinstmöglichem Aufwand regeln kann - von der Firmengründung bis zur Stimmabgabe bei Wahlen. Erhöhte Steuereinkünfte steckt der Staat in die Bildung, damit Kinder das Programmieren von der ersten Klasse an lernen und somit über Fähigkeiten verfügen, die in einer zunehmend roboterund computerlastigen Zeit tatsächlich von Nutzen sind. Das habe ich am Beispiel Estland gelernt: Wir dürfen uns von den Entwicklungen nicht überrollen lassen. Sie sind Menschenwerk und müssen von Menschen gestaltet werden. 

Ich möchte also über Haltungen sprechen. Über Haltungen im Umgang mit einer Entwicklung, die große Chancen verspricht, aber auch mit großen Risiken behaftet ist. Die Esten wissen und – mehr noch – sie akzeptieren: Die Zukunft wird digital. Sie schafft im Leben eines jeden Einzelnen viele Erleichterungen und Verbesserungen, ist aber auch nicht unbedenklich und ungefährlich. Aber nur wer imstande ist, die neue Technik zu beherrschen und zu entwickeln, wird ihre Unzulänglichkeiten – weitgehend - beseitigen, Gefahren – weitgehend - erkennen und Risiken mindern können. Derjenige hingegen, der aus Ängstlichkeit vor ihren Schwachstellen die Finger von ihr lässt, wird zwangsläufig zum Getriebenen, zum Abgehängten und zum Opfer ihrer dunklen Seiten. Ich empfehle den politisch Verantwortlichen nun nicht, sofort nach Estland zu reisen und alle estnischen Lösungen für Deutschland zu kopieren – sicher sind nicht alle Regelungen in einem Land von 1,3 Mln Einwohnern für größere Länder geeignet. Aber ich wünschte, politisch Verantwortliche und alle Bürger, die sich - ähnlich wie ich – lange abwartend verhalten haben, möchten sich noch aufgeschlossener dem stellen, was auf uns zukommt und aktiv mit nach Lösungen suchen, wie die digitale Welt nach unseren Bedürfnissen gestaltet werden soll. 

Tatsächlich haben Facebook, Google, E-Mails, online-games, Routenplanern, WhatsApp etc. ja schon längst Eingang in unseren Alltag gefunden. Und wie die neueste Studie von DIVSI zeigt, wissen inzwischen erstaunlich viele Menschen die Erleichterungen und Vorteile für sich persönlich und für unser Land zu schätzen. Aus dieser positiven Grundhaltung heraus wünscht sich eine übergroße Mehrheit auch eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die Deutschland auf dem Gebiet der Digitalisierung von den mittleren Rängen auf eine Spitzenposition bringen möge. Gleichzeitig, und das zeigen heftige, in regelmäßigen Abständen wiederkehrende Debatten, stehen Datenschutz- und Sicherheitsbedenken einer breiteren Akzeptanz der digitalen Technologie oft noch im Wege. Und es stimmt ja auch: Täglich berichten die Medien von Hacks, Social Bots, von Datendiebstahl und Eingriffen in die Privatsphäre. Nicht nur, dass Big-Data- Unternehmer immer differenziertere Profile zu Einzelpersonen erstellen. Es wurden beispielsweise auch die Server des Bundestags, der Demokratischen Partei in den USA und des Wahlkampfteams von Emmanuel Macron gehackt. 

Werbeanzeigen auf Facebook und Twitter, die sich auf russische Agenten zurückführen lassen, sollten die öffentliche Meinung im amerikanischen Wahlkampf beeinflussen. Generell ist deutlich geworden, dass technologische Innovationen verbunden mit wirtschaftlicher Macht massiv für politische Interessen instrumentalisiert werden können. Es gab und gibt nun Intellektuelle, die empfehlen, sich in völliger Askese zu üben und gänzlich auf Smartphone, soziale Netzwerke, online-Käufe, online-Portale etc. zu verzichten.

 Die Verweise auf die Stasi oder Gestapo sind beim Thema Digitalisierung fehl am Platz

Der Durchschnittsbürger ist zwar nicht so radikal, aber immerhin ergaben eine Untersuchung von DIVSI und dimap, dass 64 Prozent der Deutschen beispielsweise bei einer digitalen Zustellung staatlicher Dienstleistungen um die Sicherheit ihrer persönlichen Daten besorgt wären. Einerseits verstehe ich die Angst vor Verletzung der Privatheit gerade in einer Nation, in der Überwachung zwei Mal als Werkzeug illegitimer Herrschaft über das Volk genutzt wurde. Fünf Jahrzehnte habe im Überwachungsstaat DDR gelebt, zehn Jahre lang war ich als Leiter der Stasi- Unterlagenbehörde täglich mit den Spätfolgen derartiger Willkür gegenüber den Bürgern konfrontiert. Aber der Verweis auf Stasi und Gestapo bzw. die Assoziation mit dem Roman „1984“ ist in der Regel falsch. Ja, es gibt Fälle, in denen der Staat jemanden überwacht und ausspäht. Die Internetkonzerne hingegen hacken sich nicht ein und hören uns nicht gezielt ab. Sie sammeln einfach ein, was ihnen freiwillig angeboten wird. 

Deshalb erscheint mir der Umgang mit Datenschutz und Internet-Sicherheit in Deutschland nicht frei von Heuchelei. Teile von Medien und Politik protestieren zwar regelmäßig, wenn die Privatheit verletzt wird oder verletzt zu werden droht. Doch wie authentisch ist diese Empörung, wenn sich bei DIVSI-Studien herausstellt, dass sehr vielen Nutzern eine leichte Bedienung der Netzanwendungen im Zweifel wichtiger ist als die Garantie geschützter Daten? Dass Bürger also freiwillig verraten, was eigentlich niemand wissen soll? Oder ist es so, dass die Bürger den privaten Giganten weniger misstrauen als dem Staat - unserem demokratischen Staat? Sollte uns nicht zu denken geben, dass eine DIVSI-Studie festhielt, dass 85 Prozent der Deutschen sich zwar wünschen, dass der Staat sich stärker um die Sicherheit im Netz kümmern möge, 84 Prozent ihm das aber gar nicht zutrauen? 

Die Wahrheit über unseren Umgang mit dem Internet dürfte in der Regel ganz banal lauten: Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit sind einer Mehrheit wichtiger als Sicherheit. Mit dem Navi im Auto, dem Fitness-Band am Arm oder mit den Zahlungen per Payback- Karte ist es der einzelne Mensch selbst, der eine Erfassung seines Profils ermöglicht. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari stellt daher fest: „Die Machtverschiebung von den Menschen auf die Algorithmen findet ringsherum statt, und zwar nicht als Folge irgendeines folgenschweren Regierungsbeschlusses, sondern dank einer Flut ganz profaner Entscheidungen.“ Die Verantwortung für die Sicherheit tragen insofern wir alle: der Staat, Computerfachleute, Unternehmer, aber eben auch die Nutzer selbst. Ich denke, es gilt eine Balance zu finden. Ich misstraue sowohl denen, die Sicherheitsbedenken davon abhalten, sich der digitalen Entwicklung wirklich zu öffnen. Ich misstraue aber auch jenen, die allein die Technologie im Auge haben, sich um ihre ihre gesellschaftlichen Auswirkungen aber nicht kümmern. Die Erstellung von Nutzerprofile dürfte in Zukunft ebenso weiter zunehmen wie Cyberangriffe - auf individuelle Nutzer, auf Regierungen, Unternehmen, Parteien oder die sogenannte kritische Infrastruktur, also Energienetze oder Krankenhäuser.

 Die Janusköpfigkeit der Digitalisierung macht den Umgang mit ihr so schwer

Aber wir sind nicht hilflos. Sicherheit in der digitalen Welt kostet Geld und Zeit, aber sie lohnt sich, ja: sie muss sich lohnen. Ich denke, dies zu vermitteln, ist eine wichtige Aufgabe der nächsten Zeit. Alle, die im Internet agieren, haben zur Sicherheit des Netzes beizutragen. Individuelle Nutzer und Firmen kommen nicht umhin, ihre Systeme gegen Auslesung und Hacker-Angriffe zu rüsten. Internetkonzerne können sich Fake News, Terror- oder Hassbotschaften gegenüber nicht neutral verhalten. Und Regierungen sind angehalten, Schwachstellen und Sicherheitslücken etwa in der kritischen Infrastruktur zu schließen und die Sicherheit der Gesellschaft gegen Desinformation oder digitale Sabotage zu garantieren. 

Was den Umgang mit der digitalen Technologie meines Erachtens generell schwierig macht, ist ihre Ambivalenz – ihre Janusköpfigkeit, wie der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar formulierte. Denn Umgang mit Ambivalenzen fällt dem Menschen schwer. 31 Prozent der Internetnutzer und sogar 46 Prozent der Nicht-Internetnutzer haben bei DIVSI-Umfragen vom Sommer diesen Jahres angegeben, sich durch die Digitalisierung verunsichert zu fühlen. Und Unsicherheit oder sogar Angst lähmen, sie fördern Fluchttendenzen und hindern oder verzögern Aktivitäten zur Problemlösung. Das betrifft insbesondere das Nachdenken über die mittel- und längerfristigen Folgen der rasanten Entwicklung. Haben wir uns beispielsweise schon ausreichend damit auseinander gesetzt, wie der Einzelne es lernen kann, in den zahlenmäßig unübersehbaren Möglichkeiten der digitalen Sphäre nicht zu ertrinken? Google etwa verfünffachte sein App-Angebot in den letzten Jahren auf derzeit fast dreieinhalb Millionen einzelner Produkte, die allein im Jahr 2016 insgesamt 20 Milliarden Mal herunter geladen wurden. 

Eine derartige Überfülle von Daten und Informationen erlaubt dem Einzelnen kaum mehr, das jeweils Wichtige herauszufiltern. Kann es gelingen, im Laufe kollektiver Lernprozesse sich neue Nutzungskompetenzen anzueignen? Und muss sich nicht jeder Einzelne beispielsweise auch damit auseinandersetzen, ob er sich im Alter, falls erforderlich, von einem Roboter betreuen lassen würde? Schon heute wissen Algorithmen oftmals besser als ein Arzt, welche Medikation am besten zu einer Diagnose passt und in welcher Höhe sie beim betreffenden Individuum am ehesten Erfolge verspricht. 

Und sollten wir alle nicht viel stärker darüber nachdenken, was mit jener zunehmenden Zahl von Ärzten, Juristen, Bankangestellten, LKW-Fahrern und vielen anderen Menschen geschieht, deren Arbeit im Zuge der Digitalisierung überflüssig wird? Sollten wir nicht auch viel stärker darüber nachdenken, wie das Leben aussehen wird, wenn Roboter und künstliche Intelligenz feste Bestandteile unserer Welt geworden sein werden? Fürchten wir nicht alle, dass sich die Rolle des Menschen dann grundlegend verändern könnte? 

An all diese Fragen – und viele andere mehr – denke ich, wenn ich davon spreche, dass das, was in der digitalen Welt geschieht, wesentlich von unserer Haltung abhängt. Von unserem Mut, wissen zu wollen. Von unseren Mut, uns kompetent zu machen. Von unserem Mut, uns einer Entwicklung zu stellen, selbst wenn wir (noch) nicht wissen, wohin sie uns letztlich führt und ob sie uns nicht tief in unseren Grundüberzeugungen verunsichern kann.

 Politiker und Spezialisten stehen bei der Digitalisierung in der Verantwortung

Intellektuelle Einsicht hat mich vor sechs Jahren dazu bewogen, beim Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit (DIVSI) die Schirmherrschaft zu übernehmen. Wenn ich heute, nach fünf Jahren im Amt des Bundespräsidenten, in diese Funktion zurückkehre, dann nicht, weil ich der Illusion anhinge, aus mir würde irgendwann noch ein Spezialist für die digitale Technologie. Das mögen Jüngere und Berufenere werden. Aber mir liegt daran, die Anliegen von DIVSI zu unterstützen: Zu ermitteln, wie weit die digitale Technologie bereits Einzug gehalten hat in unsere Welt und wie sie aufgenommen wird; einen interdisziplinären Austausch zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern; über Chancen und Risiken des Internets zu forschen und einen offenen und transparenten Dialog über Vertrauen und Sicherheit im Netz organisieren und mit neuen Aspekten beleben. Wichtig erscheint mir auch das Nachdenken über einen digitalen Kodex, über Leitplanken im Internet, wie es der ehemalige Bundespräsident und ehemalige DIVSISchirmherr Roman Herzog formulierte: Reichen unsere Werte aus der analogen Welt oder wo ist Nachholbedarf? 

Durch seine Studien hat DIVSi in den vergangenen sechs Jahren bereits fortlaufend dazu beigetraten, den Ist- Zustand auf verschiedenen digitalen Feldern zu ermitteln und

dadurch den Handlungsbedarf für die Politik aufzuzeigen. So hat es mit seinen Zahlen beispielsweise Klarheit darüber geschaffen, dass 16 Prozent der deutschen Bürger noch immer offline sind, allerdings mit abnehmender Tendenz aus prinzipiell ablehnenden Gründen. Es hat mit seinen Studien auch die gängige These widerlegt, dass im Internet alle gleich seien und bits und bytes keinen Unterschied machten zwischen arm und reich, Akademikern und Bildungsfernen. Vielmehr stellte sich heraus, dass Bildungsgrad, Höhe des Einkommens, Wohnlage und andere soziale Faktoren Verhalten im und Umgang mit dem Netz determinieren. Und dass, wer aus bildungsfernen Haushalten kommt, Chancen auch im Internet weniger zu nutzen versteht. Damit stehen wir im Umgang mit dem Internet vor demselben Problem wie in der Bildung insgesamt. Formale Gleichheit schafft noch keine gleiche Nutzung der Chancen. Um Lösungen muss hier wie da noch gerungen werden. 

Vor wenigen Wochen hat DIVSI einen großen Bruder erhalten: Mit dem „Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft“, dem Deutschen Internet Institut (DII), existiert nun auch ein staatliches Institut, das sich ebenfalls mit den Wechselwirkungen von fortschreitender Technisierung und Gesellschaft beschäftigen wird. Umfangreiche interdisziplinäre Forschungen sollen gesellschaftliche, wirtschaftliche, rechtliche, politische und ethische Aspekte beleuchten und dabei die Arbeit verschiedener Einrichtungen in Berlin und Brandenburg koordinieren. 

Wir blicken jetzt schon gespannt darauf und freuen uns auf erste Forschungs- und Studienergebnisse und die Impulse, die das Deutsche Internet Institut der Gesellschaft, aber auch dem DIVSI geben kann. Ich werde mich bemühen, dass gelegentlich auch umgekehrt das DIVSI die Arbeit des DII befruchten kann. Anders geht es gar nicht angesichts der Mammutaufgabe - gerade in Zeiten wie diesen, die geprägt sind von Unsicherheiten und Vertrauensverlusten im politischen wie ökonomischen Bereich. Wir brauchen ein Zusammenwirken aller Kräfte, die fähig und willens sind zur digitalen Aufrüstung vom Breitband bis zur elektronischen Verwaltung, zur Sicherung rechtlicher Standards bei gleichzeitiger Förderung wissenschaftlicher und technischer Innovationen und zum Schutz der Infrastruktur unserer Länder – denn wenn sich nichts ändert, werden schon in einigen Jahren Zehntausende von Sicherheitsexperten fehlen. 

Insbesondere in der Pflicht sehe ich allerdings zwei Gruppen: die Politiker und die Spezialisten. Bei den Spezialisten wünsche ich mir, dass sie sich nicht nur als Techniker begreifen, sondern die Folgen ihrer Arbeit für das Zusammenleben bedenken. Und bei den Politikern wünsche ich mir, dass sie sich der neuen Technik offensiver stellen und mit Diskussionen und Gesetzen der aktuellen Entwicklung ausreichend Rechnung tragen. Ich wünsche mir, dass sie generell, aber gerade auf diesem Gebiet eine Kommunikation erhellender Vereinfachung mit den Bürgern entwickeln und so das Unwissen mindern und Ängsten konstruktiv begegnen. Nur so kann der Unkultur von Ängstlichkeit und von Gleichgültigkeit und Fatalismus gewehrt werden. Nur so wird Deutschland im digitalen Bereich einen Platz einnehmen, der seinem politischen und wirtschaftlichen Rang entspricht.

Dieser Text ist das Protokoll der Rede, die Ex-Bundespräsident Joachim Gauck am 12.10.2017 anlässlich der Übernahme der Schirmherrschaft für das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet gehalten hat.

Joachim Gauck

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