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70 Prozent aller türkischen Frauen tragen ein Kopftuch.

© dpa

Frauenerwerbsquote: Kopftuchverbot hält Frauen vom türkischen Arbeitsmarkt fern

In keinem anderen Land von Europa bis Zentralasien sind so wenige Frauen berufstätig wie in der Türkei. Warum? Eine Studie hat nun ein Tabu gebrochen und belegt unerwartete Auswirkungen des Kopftuchverbots.

Wer in der Türkei einen Tee bestellt, bekommt ihn von einem Mann serviert, und selbst die Dauerwelle im Damensalon wird meist von einem Herrn gelegt. In keinem anderen Land von Europa bis Zentralasien sind so wenige Frauen berufstätig wie in der Türkei. Zwar sind türkische Frauen auf dem Papier gleichberechtigt; seit 1992 brauchen sie auch nicht mehr die Zustimmung des Ehemannes, um arbeiten zu dürfen. Die türkische Frauenerwerbsquote sinkt dennoch seit mehr als 20 Jahren und unterbietet mit 22 Prozent inzwischen nicht nur die westlicher Gesellschaften, sondern auch Algerien, Afghanistan und die meisten anderen islamischen Länder. Dabei schwindet nicht einfach die Zahl von Landarbeiterinnen, was durch den strukturellen Wandel der türkischen Wirtschaft erklärbar wäre. Was die Weltbank ebenso wundert wie die OECD, das ist der seit den 80er Jahren andauernde Rückzug von studierten und hochqualifizierten Frauen aus dem türkischen Arbeitsmarkt.

Vom "Rätsel der türkischen Frauenerwerbsquote" spricht die Weltbank in diesem Zusammenhang. Neslihan Akbulut findet das Phänomen weniger rätselhaft. "Ich habe mein Studium in Schweden mit einem Masters abgeschlossen und dann in der Türkei begonnen, Arbeit zu suchen", erzählt die 27-jährige Soziologin, deren schmales Gesicht von einem blauen Kopftuch umrahmt ist. "Erst habe ich nach einer Stelle gesucht, die meiner Ausbildung entspricht, aber da hat mich natürlich niemand genommen. Dann habe ich mich auf niedriger bewertete Stellen in geringeren Berufen beworben, zuletzt sogar in einer kleinen Werkstatt als Bürokraft, aber da wurde ich auch nicht genommen. Jetzt arbeite ich zu einem Niedriglohn als Sekretärin für einen Verein, der sich für die Gleichberechtigung von Frauen mit Kopftuch einsetzt."

Neslihan Akbulut trägt ein Kopftuch, so wie die meisten Frauen in der Türkei, genauer: rund 70 Prozent aller türkischen Frauen. Weil das Kopftuch seit dem Militärputsch von 1980 an allen öffentlichen Einrichtungen der Türkei verboten ist, scheiden verbeamtete Berufe und staatliche Anstellungen für sie von vorneherein aus. Bleibt natürlich der private Sektor - doch auch da erweist sich das Kopftuch als Karrierehindernis, wie die Soziologin Dilek Cindoglu von der Bilkent-Universität in Ankara und der Columbia-Universität in New York jetzt nachgewiesen hat. Die Professorin, die ihr langes, blondes Haar offen trägt, stellte ihre Studie in diesem Monat am Istanbuler Forschungsinstitut TESEV vor.

In fast allen qualifizierten Berufen gebe es Berührungspunkte mit staatlichen oder halbstaatlichen Einrichtungen, erläutert die Professorin das Problem; so müsse man gelegentlich ein Amt besuchen, zu Geschäftstreffen oder zu Kundenbesuchen gehen, "Eine Kopftuchfrau kann da nicht überall hin gehen", sagt Cindoglu. "Deshalb spreche ich von einer Ausstrahlung des Kopftuchverbots im öffentlichen Sektor auf den privaten Sektor, einem sogenannten Spillover-Effekt."

Von der Architektin, die nicht zum Grundbuchamt gehen kann, über die Journalistin, die nicht ins Parlament darf, bis zur Zahnärztin dekliniert Cindoglu in ihrer Studie die Probleme durch. "Nehmen wir eine Rechtsanwältin: In den Gerichtssaal darf sie im Kopftuch nicht, sie kann also keinen Prozess führen. Sie könnte den Papierkram erledigen, Dokumente einreichen, aber die Beamten am Gericht sehen das nicht gerne, wie mir immer wieder berichtet wurde." Große Kanzleien stellen deshalb keine Juristinnen mit Kopftuch ein. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit den Erfahrungen, die Neslihan Akbulut bei ihren Bewerbungen machte. "Die Firmen sorgen sich um ihr Image", sagt die Soziologin. "Ich habe mich etwa bei einem Demoskopie-Institut beworben, die haben gesagt: ‚Eine Kopftuchfrau können wir nicht rausschicken zu Befragungen - was denken dann die Interviewpartner?'"

Wenn hochqualifizierte Frauen im Kopftuch überhaupt beschäftigt werden, so stellt Cindoglu in ihrer Studie fest, dann meist nur zu Hilfsdiensten in Hinterzimmern, wo sie nicht gesehen werden - und das natürlich zu deutlich niedrigeren Gehältern. Leidtragende dieser Entwicklung sind aber nicht nur die Frauen im Kopftuch, analysiert die Professorin. Wegen der niedrigen Frauenerwerbsquote haben Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit in der Türkei keine Chance. Weil so wenige Frauen arbeiten, gibt es auch keinen Druck für Kinderbetreuung, Krippen und Kindergärten. Und weil die meisten Frauen gezwungenermaßen als Hausfrauen und Mütter daheim bleiben, wird das traditionelle Rollenbild der Frau verstärkt und weitergegeben an die nächste Generation.

"Das Ergebnis ist schlecht für alle Frauen, gleich ob sie Kopftuch tragen oder nicht", resümiert Cindoglu. "Wir dürfen die negativen Auswirkungen des Kopftuchverbots auf die Frauenerwerbsquote nicht länger ignorieren." Tausende junge Türkinnen ziehen längst ihre eigenen Konsequenzen, so wie Neslihan Akbulut. "Ich könnte hier höchstens weiter als Sekretärin arbeiten, aber so will ich mein Leben nicht verbringen", sagt die junge Soziologin. "Mein Mann und ich haben nun beschlossen, ins Ausland zu gehen."

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